Und schon wieder hing Bayern öfter am Smartphone oder vor dem Fernseher, als gesund ist. Diesmal nicht wegen Corona, das 2023 eine Krankheit wie viele andere wurde: ein bekannt übler Bursche. Sondern, weil auch in diesem Jahr erwartungsgemäß wieder zu viel Unerwartetes passierte; wenig davon erfreulich, etliches, das aus fernen Ländern bis vor die eigene Haustür schwappte. Gut – die Polen wählten gegen den Trend ihre europafeindliche Regierungspartei PiS ab und aus Gallien kam endlich wieder ein rundum gelungener Asterix (Band 40, "Die weiße Iris"), der Lust machte, auch die alten Hefte noch mal zu lesen. Aber sonst?
In der Top-Navigation von BR24 finden sich neben dem Ukraine-Krieg jetzt auch die Punkte Krieg in Israel und Gaza und Migration. "Krisenmodus" ist das Wort des Jahres. "Eine Atmosphäre des Bedrohtseins" macht der Politologe Herfried Münkler in seiner jüngst erschienen Globalanalyse "Welt in Aufruhr" aus – was viele, die als Kind nicht in einen Topf mit Zaubertrank gefallen sind, nur durch Vereinfachung oder Verdrängung ertragen konnten: "Die schlechten Nachrichten überlappen und überlagern sich, und was zuunterst zu liegen kommt, spielt schon bald keine Rolle mehr", schreibt Münkler. Ein Rückblick unter den Teppich.
Made in Bavaria
Das Jahr beginnt vergleichsweise friedlich – außer in Bayern, da herrscht bereits Wahlkampf. Den ersten Aufreger liefert frei Haus die EU: Ab dem 24. Januar dürfen laut Lebensmittelverordnung neben Mehlwürmern und Heuschrecken auch Grillen zu Essbarem verarbeitet werden. "Die spinnen, die Brüssler!" Ein gefundenes Fressen, nicht nur für Hubert Aiwanger.
Zwar steht im Kleingedruckten, dass die Viecherln nur feinstvermahlen und sauber deklariert unters Volk dürfen, aber: wurscht. Ab sofort gibt es kaum ein bayerisches Bierzelt, in dem beim Verzehr von Schweinswürstln und Grillhendln nicht über das unmittelbar bevorstehende Verbot von Schweinswürstln und Grillhendln räsoniert wird. "Zu viel Kraftmeierei und zu wenig Argumente", fürchtet Expertin Ursula Münch nach dem Politischen Aschermittwoch für den Wahlkampf. Der Ton ist gesetzt.
Im Audio: Ausschnitt aus dem 40. Asterix-Band
In der Staatsregierung allerdings herrscht – anders als in Berlin – Harmonie; noch. Ein Bild vom Vorjahr: Ministerpräsident Markus Söder (CSU) schenkt seinem Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) zu dessen 50. Geburtstag am 26. Januar 2021 einen Wanderrucksack, und der, aus Erfahrung schlau geworden, schaut genau nach, was drin ist (nämlich "bayerische Spezialitäten" und das Buch "Meditation für dein Leben").
Wolf mit Aussicht
Apropos Rucksack: Den Rest der Jagdsaison wandern die beiden Alphatiere rastlos von Nürnberg 'nüber nach Abensberg ("Gillamoos ist Deutschland", Friedrich Merz) und von Erding 'nauf nach Oberaudorf – Wer ist zuerst da und wer am meisten? "Hier gibt's keine zwei Dicken! Höchstens einen und der ist nicht dick." (Obelix in: Asterix bei den Briten).
Auf die Alm zieht es sie und andere nicht nur, weil Politiker (und Journalisten) in Wahlkampfzeiten naturgemäß zu Gipfelsturm und Rudelbildung neigen, sondern weil hier gerade Wolf und Bär steppen. Und der Wolf ist nicht nur, er hat auch gerissen, und taugt deshalb wie die Made als Aufreger-Tier. "Söder auf der Alm: Der Wolf gehört nicht hierher", titelt BR24. "Wolf auf der Alm: Söder gehört nicht hierher", kommentiert ein Forist.
Atomkraft? Hier nicht mehr
Drunt' im Tal schalten sie währenddessen ab. "Wir schicken hier einen kerngesunden 50-Jährigen in den Ruhestand", sagt Umweltminister Thorsten Glauber (FW), meint aber nicht Parteifreund Aiwanger, sondern das Kernkraftwerk Isar 2 bei Landshut, dessen historisches Aus am 16. März vielen plötzlich zu früh kommt.
Der GAU – der größte anzunehmende Aufreger – allerdings trägt den Namen GEG – Gebäudeenergiegesetz. Über dessen Verfertigung gehen monatelang quasi minütlich neue, einander zuverlässig widersprechende Meldungen ("Heiz-Hammer!", Bild) ins Land. Muss jetzt wirklich jeder eine Wärmepumpe im Rucksack haben? Als das Gesetz nach monatelanger Überüberarbeitung im September endlich vom Bundestag beschlossen wird, hat die Wärmepumpe die Gemüter längst zum Sieden gebracht.
"Heat Pump Valley" Bayern
Effekt in Bayern: Die Nachfrage nach Wärmepumpen bricht ein. "Zum Schluss waren die Kunden so verunsichert, dass sie gar nichts mehr machen wollten, am liebsten den Kopf in den Sand stecken und warten, was passiert", berichtet Heizungsbauer Erich Schulz aus Augsburg. Dafür werden die Dinger jetzt öfter gestohlen.
In Erding demonstrieren Tausende gegen das Gesetz aus Berlin (manche gegen Berlin an sich), woraufhin in München Tausende gegen die Parolen aus Erding auf die Straße gehen. Freude herrscht nur in Kasenbach bei Kulmbach: Hier produzierte die Firma Maja, groß geworden in den 1950ern mit Fernsehtischchen, jährlich 280.000 Kommoden und Schränke – vor der Pleite. Jetzt übernimmt ein Heiztechnikhersteller das Areal, um hier pro Jahr 300.000 Wärmepumpen zu produzieren.
Auf Starkregen folgt Sonnenglut – und Windhose
In Bayern brennt im Sommer 2023 politisch die Luft, in Kanada eine Waldfläche von der doppelten Größe Bayerns. Hierzulande produzieren die transatlantischen Rauchschwaden besonders schöne Sonnenuntergänge. Auch in Griechenland und auf Teneriffa lodern die Flammen wie nie, Slowenien erlebt die schlimmste Flut seiner Geschichte – das THW Bayern hilft.
Bei uns sind die Schäden überschaubarer und übel genug. In Burghausen tobt eine Windhose durch die Altstadt, an Passaus Innpromenade reißt der Sturm Bäume um, in Benediktbeuern und Bayersoien müssen nach dem (laut Bayerischer Versicherungskammer) drittschlimmsten Hagel im Freistaat 1.400 Häuser neu gedeckt werden.
Im Video: Die Klimakrise ist in vollem Gange
Unterfranken: Wein ohne Wasser und ein Streichquartett
Wie schwierig es ist, aus dem Klimawandel die richtigen Schlüsse zu ziehen, zeigt ein Blick ins immer wasserknappere Unterfranken. "Schlanke Linie, reine Haut – nur durch Pläffeld Sauerkraut", hieß ein alter Werbeslogan der "Krautmetropole" Unterpleichfeld hinter Würzburg. Doch auch die letzte von drei Sauerkrautfabriken hat dichtgemacht, von 30 Krautbauern sind aktuell noch zwei übrig – Absatzprobleme und Wassermangel. Was tun? Fragen sich einige Kilometer weiter auch die Winzer. "Wir haben in heißen Jahren Niederschläge von vier- bis fünfhundert Millilitern. Das ist ungefähr so viel wie in Jordanien", sagt Andrea Wirsching aus Iphofen, deren Familie schon seit 1630 Wein anbaut.
Manche Winzer setzen auf den Bau von Speicherseen. In Hafenlohr bei Marktheidenfeld hingegen sind sie froh, dass ein seit Jahrzehnten immer wieder angeplantes Speichersee-Projekt die Landschaft noch nicht verschluckt hat. 2023 belegt das idyllische Flusstal bei der Wahl zum deutschen "Naturwunder des Jahres" Platz 4. "Dies ist eine alte Landschaft. Die gibt es gar nicht mehr; hier ist die Zeit stehen geblieben", schrieb anno 1927 Kurt Tucholsky. "Wenn Landschaft Musik macht: Dies ist ein Streichquartett." In Moll.
Im Video: Das Hafenlohrtal
Flugblatt aus der Vergangenheit
All diese Überlegungen geraten für Wochen aus dem Blick, als im August aus ferngeglaubter Vergangenheit in einer längst vergessenen Schul-Aktentasche Hubert Aiwangers ein Flugblatt mit – Ironie aus – absolut menschenverachtendem Inhalt nebst gravierenden Erinnerungslücken des stellvertretenden Ministerpräsidenten auftaucht.
- Die Flugblattaffäre: Fragen, Antworten und neue Fragen
- Presserat weist Beschwerden über Aiwanger-Berichterstattung ab
Noch bevor Näheres bekannt ist, teilt sich Bayern in zwei Lager: Empörte und über die Empörten Empörte. Der Grad der allseitigen Verdrossenheit erreicht fast das Niveau der Flüchtlingsdebatte, die von Westendorf (Ostallgäu) über Penzing (Oberbayern) bis Scheinfeld (Mittelfranken) an ihre Obergrenze stößt. "Ich habe nichts gegen Fremde. Aber diese Fremden, die sind nicht von hier" (Asterix auf Korsika).
München: Immobilitätsmesse und Keinbahngleise
Als wäre die Lage nicht verfahren genug, legt kurz darauf die Mobilitätsmesse IAA die bayerische Hauptstadt lahm, die tagelang halb Ausstellungsfläche, halb Klebefläche ist. Dann rammt auch noch ein Bagger eine Oberleitung und die Bahn empfiehlt, "von Reisen von oder nach München abzusehen". Die Bundesaußenministerin, die symbolträchtig mit dem Zug zur IAA angereist ist, lässt sich auf dem Rückweg im Dienstwagen chauffieren.
Überhaupt, die Bahn: Im April und Mai streikt die EVG, im November und Dezember die GDL. Arbeitskampf, Baustelle, Baumsturz, Weiche, Wetter – irgendeinen Grund gibt es immer, dass nichts fährt. Die feierliche Wiedereröffnung des totalsanierten Augsburger Hauptbahnhofs findet mit großer Beteiligung, aber ohne Züge statt.
Der große Graben
Obwohl im Wahlkampf fast alle Parteien für sich a) die politische Mitte und b) gesunden Menschenverstand beanspruchen, ist beides 2023 nicht leicht zu verorten. Übrigens auch nicht bei allen Wahlberechtigten. Grüne Politiker werden mit Flüssigem begossen (Landshut) und mit Steinen beworfen (Neu-Ulm), der AfD-Chef spürt in Ingolstadt einen rätselhaften Stich.
Die Stimmung erinnert an Asterix-Band 25 "Der große Graben". Man lebte gern einfach so seinen Tag – und muss ständig Stellung beziehen: Gehen einem nun die klebrigen Untergangspropheten mehr auf den Keks oder die Autoindustrie, die ihren adipösen Stehzeugen statt einer Abnehmspritze immer aggressivere Fressleisten verpasst? Soll man Aiwanger für einen ehemaligen Heil-Schreier oder künftigen Heilsbringer halten? Ist man Klima- oder Heizungsschützer? Großinvestor oder Kleinsparer? Mördermieten- oder Killerzinszahler? Stadt oder Land? Scholz oder Merz? Oder Söder? Oder oder?
Oder doch das Leben feiern?
Es gibt nicht so viel zu feiern in diesem Jahr – aber das lässt sich Bayern dann doch nicht nehmen (wenn nicht, wie jüngst in Freyung, die Post die Einladungen vertrödelt).
Das laut mehrerer Augenzeugen schönste Fest der Welt wird 2023 in Landshut zelebriert. Es findet nur alle paar Jahre statt, damit es sich nicht abnutzt. Die Landshuter Hochzeit ist Europas größtes Historienspiel, das seit 110 Jahren aufgeführt wird, also selbst schon Geschichte gemacht hat. Vier Wochen lang bejubeln 2.500 Mitwirkende und eine halbe Million Besucher die Hochzeit des Landshuter Herzogssohns Georg mit der polnischen Prinzessin Hedwig – ein durchaus pro-europäisches Event, bei dem 323 Ochsen und 40.000 Gänse verputzt wurden (Details hier), und das man sich wie die Potenzierung der Schlussszene bei Asterix vorstellen kann. Dass das Tafelsilber wenig später zu Münzen umgeschmolzen wurde, um die Kriegskasse zu füllen, soll hier unter den Tisch fallen.
Die Münchner wiederum haben nach Jahren der Terror- oder Seuchenfurcht ihr Oktoberfest wieder. Eine Riesensach' mit dem vielleicht größten Vorteil, dass nur hin muss, wer mag. 7,2 Millionen wollten – neuer Besucherrekord. Natürlich gab es auch von der Wiesn wieder schlimme Schlagzeilen, gleich zum Start und hinterher - aber eben auch Hunderte kleine Geschichten, selbst erlebte oder nachzulesende, die zeigen, wie das Leben auch sein kann. Es treten auf: Start-up-Gründer in Lederhosen, Polizei-DJs, todesmutige Steilwandfahrer, super sortierte Müllsammler und natürlich die Bedienung Verena, die zur Worldwide-Wiesn-Berühmtheit wird, weil sie mit schwebender Eleganz 13 Maß durch die Menge wuchtet. Krafttraining, erzählt sie BR24, brauche sie dafür nicht: "Ich hab' einen Sohn, den ich rumtrage."
Als Hintergrundmusik dazu denken Sie sich bitte den Überraschungs-Wiesnhit 2023 - den Italo-Klassiker "Sarà perché ti amo". Dessen Komponist Dario Farina hat übrigens auch die Titelmelodie zu "Monaco Franze" geschrieben. Die Welt ist ein Dorf.
Im Video: Die Landshuter Hochzeit 2023
Antisemitismus: Er ist wieder da
Am 7. Oktober reißt ein beispielloser Terror-Überfall der Hamas auf israelische Zivilisten einen weiteren Graben auf, einen sehr tiefen, alten, nur notdürftig zugeschütteten. Die Erschütterungen reichen bis nach Bayern. Tausende gehen auf die Straße – für Israel, gegen Israel. In Augsburg (wie anderorts) wird am Rathaus eine Israel-Flagge gehisst und zweimal heruntergefetzt.
In den folgenden Wochen registrieren die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus in Deutschland (Rias) 994 antisemitische Vorfälle im Land. Die Polizei führt Razzien durch und stößt auf mehr Mordfantasien, gelbe Sterne und Holocaust-Lügen, als in eine Aktentasche passen. "Das haben wir eigentlich nie erwartet, dass in Deutschland solche Demonstrationen stattfinden, mit 'Juden wieder ins Gas'", sagt Peter Guttmann von der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. "Das ist erschreckend." Viele Juden, berichtet Anna Zisler aus Straubing, zögen sich zurück. Ein jüdischer Vater sagt BR24: "Wenn man in der Rolle eines Familienvaters ist, überlegt man gerade ganz genau, wie man seine Familie beschützen kann. Und wie lautet der Plan B, wenn man einen bräuchte?"
Auch Joana Osman aus München ist aufgewühlt; sie ist Palästinenserin. Dabei hat sie eigentlich "nie empfunden, dass Israelis und Palästinenser weit auseinanderliegen". Diskriminierung, Vertreibung, Flucht: Eigentlich würden sich die Lebensrealitäten gar nicht so stark unterscheiden. Doch der Blick aufs Verbindende ist gerade wenig verbreitet. Momentaufnahme – oder eine weitere, finstere Zeitenwende?
- Enormer Anstieg antisemitischer Vorfälle
- Juden in Bayern: "Die Ruhe ist vorbei"
- Die Sorgen jüdischer Eltern
- "Es ist kein Spaß, Palästinenser in Deutschland zu sein"
- Eine kurze Geschichte des Judenhasses
Das große Graben – im Geldbeutel
Und dann ist auch noch das Geld alle, und das nicht nur bei dir und mir und René Benko, jenem österreichischen Milliardär mit der Erscheinung eines schneidigen K.u.K.-Dragoners, der, scheint's, sein Immobilien- und Kaufhausreich nun in den Graben geritten hat, weshalb auch in München durch Prachtbauten wie den Hertie am Hauptbahnhof und die Alte Akademie der Wind der Krise pfeift und viele Galeria-Verkäuferinnen schon wieder schlecht schlafen.
Selbst Kanzler Olaf Scholz geht das Geld aus – genauer: die Lizenz zum Schulden machen.
Konkreter Anlass ist, dass sich auch durch das Bundesverfassungsgericht eine Art Graben zieht: Der erste Senat hatte das Klimagesetz von 2019 als unzureichend gerügt und bis Ende 2022 mehr Klimaschutz verlangt. Der zweite Senat hat nun die Umlenkung von Corona-Kreditermächtigungen in den Klimatransformationsfonds untersagt, sprich: dem schuldenfinanzierten "Doppelwumms" einen Schalldämpfer verpasst. Die erste Konsequenz des Urteils – eine Haushaltssperre – trifft auch Bayern, etwa beim Wohnungsbau. Was sonst noch kommt, dürfte reichlich Stoff für den Jahresrückblick 2024 bieten.
Aber vorher ist erst mal "zwischen den Jahren". Jene wundersame Zeitangabe, die an Harry Potters Gleis 9 3/4 erinnert. Eine gute Gelegenheit, die Füße hochzulegen und dicke Bücher zu lesen, vielleicht sogar mit Happy End. Oder alte Asterix-Bände, die es auf dem Flohmarkt ganz gelegentlich noch günstig zu kaufen geben soll.
"Und denkt daran! Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist, dass uns der Himmel auf den Kopf fällt!" (Majestix in "Kampf der Häuptlinge")
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