Protestcamp an der LMU München, Palästinaflagge im Vordergrund, im Hintergrund ein Pavillion
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"Ein Alarmsignal": Wie der Nahostkrieg Deutschland spaltet

"Ein Alarmsignal": Wie der Nahostkrieg Deutschland spaltet

Ein Jahr nach dem Angriff der Hamas auf Israel sind die Folgen auch in Deutschland unübersehbar: Jüdische Menschen werden bedroht, Unis und Kulturszenen sind zerstritten. Und auch muslimische Menschen leiden unter zunehmender Diskriminierung.

Über dieses Thema berichtet: Y-Kollektiv am .

"Man muss immer wachsam sein", sagt Ron Dekel, Student und Vorstand im Verband jüdischer Studenten in Bayern, über die Situation an seiner Uni, der LMU München. Dort haben pro-palästinensische Aktivisten schon vor Monaten vor dem Hauptgebäude ein Protestcamp errichtet, in dem vereinzelt zur "Intifada" aufgerufen wurde; ein Redner sagte noch im August, man wolle "nicht dieselbe Luft atmen" wie pro-israelische Demonstranten. Und: "Es gibt keinen Frieden zwischen uns." Die Veranstalter des Camps wollten dem BR gegenüber nicht dazu Stellung nehmen.

Antisemitismus in Bayern verzehnfacht - Zahl der Straftaten auf Rekordhoch

Antisemitismus hat in Deutschland sprunghaft zugenommen. Die Zahl gemeldeter antisemitischer Vorfälle hat sich in den ersten drei Monaten nach dem 7. Oktober deutschlandweit mehr als vervierfacht. Für den Freistaat hat die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern sogar mehr als eine Verzehnfachung der Vorfälle festgestellt [externer Link] – von 43 antisemitischen Vorfällen in dem halben Jahr vor dem Angriff der Hamas auf 527 in den sechs Monaten danach.

Wie das bayerische Innenministerium mitteilte, erfasste das bayerische Landeskriminalamt (LKA) binnen der vergangenen zwölf Monate – bis einschließlich Ende September – 687 antisemitische Straftaten in Bayern. Das ist ein Rekordwert. Nachdem allein im letzten Quartal 2023 insgesamt 317 antisemitische Straftaten gezählt wurden, kamen bis Ende September noch einmal 370 dazu.

Polarisierung nimmt zu

Seit Kriegsausbruch ist vor allem in progressiven Kreisen ein Spalt aufgerissen. An Universitäten, aber auch unter queeren Gruppen lässt sich eine Polarisierung beobachten, die in dieser Intensität neu ist. Immer wieder skandieren Menschen israelfeindliche Sprechchöre – etwa die umstrittene Parole "From the River to the Sea".

Einseitige Parteinahme gegen Israel

Die Rolle der islamistischen Terrorgruppe Hamas, die den Krieg mit ihrem beispiellosen Massaker an jüdischen Zivilisten ausgelöst hat, wird hier kaum thematisiert und in Gesprächen mit dem BR von mehreren Demonstranten kleingeredet. Schließlich habe Israels Militär ja "genozidale Absichten". Nach einem Jahr Krieg mit mehr als 40.000 Toten auf palästinensischer Seite zeigt hier kaum jemand Mitgefühl mit den israelischen Geiseln im Gazastreifen. Die Schuld am Krieg sehen viele hier allein bei Israel.

Eine oft einseitige Parteinahme gegen Israel als Folge des Kriegs ist längst in ganz Deutschland zu verzeichnen. Und der Krieg im Nahen Osten hat messbare Konsequenzen: Jüdinnen und Juden werden bedroht, beleidigt und in Einzelfällen auch körperlich angegriffen. Besonders oft werden sie kollektiv für die Kriegsführung der israelischen Regierung mitverantwortlich gemacht.

Auch muslimische Menschen leiden

Gleichzeitig leiden auch muslimische Menschen in Deutschland unter der Eskalation im Nahen Osten. Rechtsextreme beschmierten muslimische Gräber mit Hakenkreuzen, griffen Frauen und Mädchen mit Kopftüchern an. Anfang August zündete ein Mann, laut Polizei aus islamfeindlichen Motiven, im Protestcamp vor der LMU eine palästinensische Flagge an. Die Zahl antimuslimischer Übergriffe und Diskriminierungen sind nach dem 7. Oktober stark angestiegen, wie die Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit CLAIM feststellt.

Der Krieg wirkt als Brandbeschleuniger für Judenhass und Rassismus zugleich. Besuch bei einer Selbsthilfegruppe von Deutschpalästinensern in Berlin-Kreuzberg: Kinder und ihre Eltern tauschen sich mit Psychologen über ihre Erfahrungen mit Rassismus aus. Youssef Ibrahim, ein Berliner Filmemacher, ist einer der Veranstalter. Er nennt es "ein Alarmsignal", dass viele der Kinder ihre Zukunft nicht mehr in Deutschland sähen. Nach einem Jahr der erhitzten Debatten um den Krieg in Gaza trauten sich viele Deutschpalästinenser hier kaum noch, ihre Identität preiszugeben – aus Angst, als Terrorsympathisanten diffamiert zu werden. Dabei wünschen sich die meisten hier ein friedliches Leben, jenseits des Nahostkonflikts.

"Reflektiert eure Slogans"

Dialog gibt es scheinbar kaum noch – aber ein paar wenige Stimmen setzen sich noch öffentlich dafür ein. Eine davon ist die Deutsch-Palästinenserin Jouanna Hassoun, Gründerin des Vereins Transaidency, der für den Abbau von Feindbildern wirbt. Während viele Deutsche Judenhass vor allem arabischen Menschen zuschrieben, sähen sie den Rassismus nicht, "dem muslimische Menschen vor allem jetzt, seit dem 7. Oktober, ausgesetzt sind".

Hassoun will Brücken bauen. Man müsse in Deutschland mit mehr Empathie auf beide Seiten des Konflikts blicken – und auch den Schmerz der Deutschpalästinenser über den Krieg respektieren: "Ich würde mir wünschen, dass man uns zuhört und uns als Menschen akzeptiert. Mit Schmerzen, mit Trauer, mit Wut. Wie alle anderen." Aber auch an die Aktivisten auf den Pro-Palästina-Demos hat sie eine Bitte: "Reflektiert eure Slogans." Wer glaubhaft für palästinensisches Leid einstehen wolle, so die Aktivistin, könne das nicht tun, ohne dabei auch "Empathie für die jüdischen und israelischen Menschen" zu haben.

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