Für Menschen wie Korbinian soll die Zukunft einfacher werden. Der Siebenjährige lehnt sich an die Kopfstützen seines Spezialstuhls. Allein aufrecht sitzen kann er nicht, ebenso wenig selbstständig stehen oder essen. Nur wenige Worte kann er sprechen.
Der Blondschopf hat von Geburt an eine Hirnschädigung und leidet zudem an lebensbedrohlichen epileptischen Anfällen. Neben einer Rund-um-die Uhr-Betreuung braucht er zahlreiche Hilfsmittel wie Orthesen, einen Therapiestuhl und einen speziellen Autositz.
"Zermürbender Kampf" um Hilfsmittel
Seit Jahren erleben Korbinians Eltern die Genehmigungsverfahren um Hilfsmittel für ihren Sohn als "zermürbenden Kampf". Längst füllen die Unterlagen zu den diversen Verfahren ganze Aktenordner. Häufig wurden Anträge abgelehnt, berichten Carmen und Thomas Lechleuthner.
Ihre Krankenkasse lasse "in vielen Fällen den Medizinischen Dienst (MD) per Gutachten prüfen, ob das beantragte Hilfsmittel aus medizinischer Sicht notwendig ist". Mehrfach fielen Gutachten des MD im ersten Anlauf negativ aus, sagt das Paar. In solchen Fällen lehnt auch ihre Krankenkasse den Antrag erst einmal ab. Für Korbinians Eltern beginnt dann ein Kampf, den sie schon oft geführt und gewonnen haben: Widerspruch einlegen, ärztliche Atteste und Erklärungen beibringen, Beratungsstellen aufsuchen, Anwälte einschalten.
Hilfsmittel erst nach langem Ringen bewilligt
"Es ist ein Irrsinns-Tauziehen. Am Ende haben wir die allermeisten Leistungen aber bewilligt bekommen. Das heißt, der Anspruch an sich für so ein Hilfsmittel ist meistens da", fasst Carmen Lechleuthner das kräftezehrende Ringen um die Hilfsmittel für ihren Sohn zusammen. Doch diese häufigen Auseinandersetzungen mit der Krankenkasse und dem Medizinischen Dienst kosten Kraft, Nerven und Zeit. Nerven, die Korbinians Eltern für ihre insgesamt vier Kinder brauchen. Und Zeit, in der der mehrfach behinderte Korbinian auf spezielle Hilfsmittel wie Orthesen und Stühle warten muss.
Vor allem mit den Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen (MD) sind die Lechleuthners oft nicht einverstanden. Sie bewerten seine Entscheidungen als "praxisfern". Im Austausch mit Betroffenen, Organisationen und Ärzten erreichten die Lechleuthner "aus ganz Deutschland flächendeckend" Schilderungen von gleichgelagerten Erfahrungen.
Petition: Fachärzte in speziellen Zentren sollen entscheiden
Damit ihr Sohn und andere Behinderte schneller und einfacher an Hilfsmittel kommen, haben die Lechleuthners vor drei Jahren eine Online-Petition gestartet. Mehr als 55.000 Menschen haben "Stoppt die Blockade der Krankenkassen" unterzeichnet.
Das wichtigste Ziel der Petition ist es, die Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. "Die Kernforderung ist es, dass Hilfsmittel, die von einem Sozialpädiatrischen Zentrum oder einer vergleichbaren Einrichtung für Erwachsene empfohlen worden sind, ohne Prüfung durch den Medizinischen Dienst von der Kasse übernommen werden müssen. Denn in diesen speziellen Zentren sitzen die ausgewiesenen Experten für die Hilfsmittelversorgung." So formuliert es Thomas Lechleuthner, der selbst als Allgemeinarzt arbeitet. "Die sitzen dort drin und nicht im Medizinischen Dienst", sagt er und meint die bundesweit rund 160 sozial-pädiatrischen Zentren (SZP), in denen Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin betroffene Kinder und Jugendliche behandeln.
Anlaufstellen für erwachsene Patienten sind die Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger oder schwerer Mehrfachbehinderung (MZEB). Grundsätzlich, so die Forderung, sollen Kinder und Jugendliche nur noch von Ärzten mit entsprechender fachlicher Qualifikation begutachtet werden.
Petitionsausschuss unterstützt Kernforderungen der Petition
Diesen Kernforderungen der Petition hat sich der Bundestag angeschlossen und der Bundesregierung empfohlen, sie zu berücksichtigen. In der Begründung des Petitionsausschusses hieß es: "Aus Sicht des Ausschusses lassen die Begutachtungen, der Verwaltungsaufwand gerade für die Betroffenen und die Dauer der Bearbeitung deutlich zu wünschen übrig."
Medizinischer Dienst warnt vor "ungerechtfertigten Kosten"
Auf Nachfrage des Bayerischen Rundfunks begrüßt der Medizinische Dienst Bund "die Intention der Petition". Die Sprecherin der Einrichtung betont aber auch "die breite fachärztliche Expertise" des MD "sowohl im Bereich der Pädiatrie als auch Orthopädie und in vielen anderen Bereichen".
Im Übrigen ist in ihren Augen das Ziel der Petition, "bei entsprechender Verordnung generell von einer Erforderlichkeit der beantragten Hilfsmittel auszugehen und dadurch die Prüfmöglichkeiten der Kostenträger einzuschränken". Dies könne aber "zu ungerechtfertigten Kosten für die Solidargemeinschaft oder zu Fehlversorgungen bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen führen", gibt der Medizinische Dienst zu bedenken.
Krankenkassen verweisen auf geringe Gutachten-Quote
Beim Spitzenverband der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen GKV beschäftigt man sich ebenfalls mit der Petition aus Oberbayern. Hier verweist man darauf, dass die Kassen fast alle Hilfsmittel ohne Begutachtung genehmigen, nämlich mehr als 99 Prozent. So wurden im vergangenen Jahr 2022 von den rund 30 Millionen Hilfsmittel-Verordnungen weniger als ein Prozent dem Medizinischen Dienst zur Prüfung vorgelegt.
Das problematische letzte Prozent
Doch genau um dieses eine Prozent der Hilfsmittel wird gerungen. Nach Angaben des GKV-Spitzenverbandes gaben die MD-Gutachter für 42 Prozent der begutachteten Hilfsmittel grünes Licht, sahen also die medizinische Voraussetzung für eine Leistungsgewährung erfüllt. Bei weiteren knapp 17 Prozent entsprach der MD den Anträgen zumindest teilweise.
Welchen Anteil die begutachteten Hilfsmittel an den Gesamtkosten aller Hilfsmittel ausmachen, kann der GKV-Spitzenverband nicht beziffern, denn die "Begutachtungsstatistik des Medizinischen Dienstes erfasst keine Hilfsmittel-Kosten". Zahlen liefert jedoch die AOK Bayern. Dort macht das eine Prozent der begutachteten Hilfsmittel gerade mal vier Prozent der Gesamtausgaben aus. Die Kosten für die Solidargemeinschaft halten sich demnach auch bei den begutachteten Hilfsmitteln in Grenzen.
Leiterin sozial-pädiatrisches Zentrum: Viele abgelehnte Hilfsmittel
Für Martina Baethmann gehören die Verordnungen von Hilfsmitteln zum Berufsalltag. Die Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin leitet das sozial-pädiatrische Zentrum (SZP) in der Münchener Klinik "Dritter Orden". Dort behandelt sie Tag für Tag Kinder und Jugendliche mit Behinderung. Der Umgang mit abgelehnten Hilfsmitteln nimmt viel Raum ein, denn nach Erfahrung der Kinderärztin werden sehr häufig komplexe Hilfsmittel vom Medizinischen Dienst begutachtet. Hier würden auch offensichtlich notwendige Hilfsmittel abgelehnt: "Wenn ich ein Kind habe, wo man Orthesen verordnet, und dann kriegt man als Antwort, es reichten doch stabile Schuhe, dann fasst man sich halt einfach an den Kopf und denkt sich: Warum kann ein System so aufgebaut sein?"
Der Hinweis des GKV-Spitzenverbands, fast alle Hilfsmittel würden ohne Gutachten genehmigt, läuft für die SZP-Leiterin ins Leere. Nach Baethmanns Ansicht sind die Fachärzte in spezialisierten Zentren einfach näher am Patienten und dessen Bedürfnissen als die Gutachter des Medizinischen Dienstes. "Das ist für mich kein Argument zu sagen, 99 Prozent werden doch genehmigt. Denn es geht ja um die Hilfsmittel, die so komplex sind, und es ist widersinnig, es an dieser Stelle immer wieder zu hinterfragen und das in die Hände von jemandem zu legen, der im Zweifelsfall meistens weniger Kenntnis über diese spezielle Fragestellung hat."
Sozialverband VdK: Lange Genehmigungsverfahren kein Einzelfall
Für den Sozialverband VdK steht fest, dass die aktuelle Gutachtenpraxis behinderte Menschen besonders hart trifft. Ihm sind viele Fälle bekannt, in denen behinderte Menschen um Hilfsmittel kämpfen. Auch der Verband fordert, dass gerade für behinderte Menschen die Verfahren beschleunigt werden. "Die Bewilligung der Hilfsmittel durch die Krankenkasse muss sich an der Verordnung der behandelnden Fachärztin oder des Facharztes ausrichten", so eine Verbandssprecherin. Sie erklärt: "Gerade wenn wegen Widerspruchs- oder Klageverfahren Monate oder sogar Jahre ins Land ziehen, bis eine Entscheidung getroffen wird, ist das für die Betroffenen sehr bitter, denn sie benötigen die Hilfsmittel ja in der Regel sofort."
Gerade bei Kindern könnten sich solche Verfahren nachteilig auf die Entwicklung auswirken. "Wenn zum Beispiel ein Sportrollstuhl erst nach langer Zeit genehmigt wird, ist das Kind aus dem beantragten Modell womöglich wieder herausgewachsen. Ohne den speziellen Rollstuhl wird dem Kind die Teilhabe verwehrt und damit Exklusion statt Inklusion gefördert", veranschaulicht der VdK die Problematik.
Bundesgesundheitsministerium am Zug
Nun liegt die Sache beim Bundesgesundheitsministerium. Es hat sich schon während der laufenden Petition mit dem Thema beschäftigt und verfolgt ebenfalls das Ziel, "die Bewilligungsverfahren im Hilfsmittelbereich bei Anträgen von Kindern und Erwachsenen mit geistiger Behinderung und schwerer Mehrfachbehinderung" zu beschleunigen. Schon bevor die Petition den Ausschuss passierte, hat das Ministerium einen ersten Referentenentwurf erarbeiten lassen: "Im Rahmen eines der nächsten Gesetzgebungsverfahren soll ein Regelungsvorschlag vorgelegt werden." Einen konkreten Zeitplan und inhaltliche Details nennt das Ministerium aktuell noch nicht.
Viele Betroffene und Unterstützer
Für den kleinen Korbinian bemühen sich seine Eltern weiterhin um alle erforderlichen Hilfsmittel. Sie hoffen, dass mit der geplanten Gesetzesänderung das Genehmigungsverfahren möglichst bald einfacher wird. Sie freuen sich, dass der Bundestag ihre Petition unterstützt. Und sie wissen, dass viele Betroffene und ihre Familien, aber auch zahlreiche Organisationen ihr Anliegen teilen. Dazu zählen die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie, die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie, das Kindernetzwerk e.V., diverse SPZs, der Verein Mobil mit Behinderung, die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e.V. , der Bundesverband Kinderhospiz e.V. und viele weitere.
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