Alice Weidel und Tino Chrupalla jubeln in der AfD-Parteizentrale bei der Prognose zur Europawahl.
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Alice Weidel und Tino Chrupalla jubeln in der AfD-Parteizentrale bei der Prognose zur Europawahl.

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AfD trotzt den Skandalen – Union sucht Schuld bei Ampel

So sehr CDU und CSU auch jubeln, von der Schwäche der Ampel profitiert die Union bei der Europawahl nur wenig. Große Gewinnerin des Abends ist neben dem Bündnis Sahra Wagenknecht die AfD. Das ist vor allem mit Blick auf die Ost-Wahlen von Bedeutung.

Bei allen Differenzen – in einem Punkt sind sich Politiker von Union und Ampelparteien einig an diesem Europawahlabend: "Mir macht das AfD-Ergebnis schon große Sorge", sagt CSU-Chef Markus Söder. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) spricht von einem "Alarmsignal" und einem "ganz schlimmen Tag für Deutschland". Der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour bezeichnet das AfD-Abschneiden als "bestürzend", für die SPD-Chefin Saskia Esken ist es die "bitterste Pille" des Abends: Erstmals bei einer bundesweiten Wahl landet die AfD mit rund 16 Prozent auf Platz zwei.

In Ostdeutschland wird die Partei – die der Verfassungsschutz als rechtsextremistischen Verdachtsfall einstuft – sogar stärkste Kraft und lässt auch die Union klar hinter sich. Entsprechend selbstbewusst tritt AfD-Co-Chef Tino Chrupalla am Abend auf. Er schwärmt von einem "historischen Ergebnis" und richtet den Blick nach vorn – auf die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. "Mehr Rückenwind für die Landtagswahlen im Osten gibt es ja für uns nicht", sagt er. "Und wir wollen und werden auch die gewinnen."

Dickes Plus trotz "ruckeligem" AfD-Wahlkampf

Das AfD-Plus von rund 5 Prozentpunkten gegenüber 2019 ist umso bemerkenswerter, wenn man die Ereignisse der vergangenen Wochen und Monate Revue passieren lässt: Da war die Teilnahme von AfDlern am Potsdamer Geheimtreffen von Rechtsradikalen, der Wirbel um die dortigen "Remigration"-Forderungen, die Negativschlagzeilen über die beiden AfD-Spitzenkandidaten für die Europawahl, Maximilian Krah und Petr Bystron, wegen mutmaßlicher Einflussnahme von Russland und China.

Beide wollte die AfD-Spitze im Wahlkampfendspurt verstecken. Gegen den ehemaligen bayerischen AfD-Landesvorsitzenden Bystron ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft München wegen "des Anfangsverdachts der Bestechlichkeit von Mandatsträgern und der Geldwäsche". Krah verärgerte mit Interviewaussagen zur SS die rechten Partner der AfD in Europa.

Trotzdem machte nahezu jeder sechste Wähler in Deutschland das Kreuz bei der AfD, in Ostdeutschland weit mehr als jeder Vierte. Der Wahlkampf sei "sicherlich etwas ruckelig" gewesen, sagt Chrupalla dazu. "Da sehen Sie mal, was wir für eine tolle Partei wird sind, wenn wir jetzt Zweiter geworden sind."

Die AfD, Wagenknecht und die Russlandpolitik

AfD-Co-Chefin Alice Weidel weicht der Frage aus, wie viele Prozentpunkte Krah und Bystron die AfD gekostet haben könnten. Stattdessen führt sie den Erfolg ihrer Partei bei dieser Europawahl vor allem darauf zurück, dass die Menschen "europakritischer" geworden seien. Den Leuten stinke die Bürokratie aus Brüssel. Auch den AfD-Kurs zu Russland sieht sie bestätigt und beklagt bei n-tv eine "Dämonisierung" von Wladimir Putin.

Eine andere Russlandpolitik fordert auch die zweite große Wahlgewinnerin des Abends: Sahra Wagenknecht. Sie pocht auf Verhandlungen mit Putin. "Wir merken doch, Waffenlieferungen beenden den Krieg nicht", argumentiert sie im Ersten. Es brauche eine diplomatische Initiative. Zugleich wehrt sie sich gegen Vorwürfe, mit ihrer Kritik an der "unkontrollierten Zuwanderung" rechte Positionen zu vertreten. Sie habe Sorge um "die Ärmeren" in Deutschland. "Rechts ist das nicht."

Das neu gegründetes Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) schafft es gleich bei seiner ersten Wahlteilnahme auf rund sechs Prozent. "Ich glaube, das gab es überhaupt noch nie in der bundesdeutschen Geschichte", sagt die Namensgeberin. Auch das BSW ist im Osten besonders stark: Mit etwa 13 Prozent lässt es alle Ampel-Parteien hinter sich.

Union zeigt auf die Ampel

Bei der Ursachenforschung für diese Entwicklung ist es dann vorbei mit der Einigkeit zwischen Union und Ampel-Parteien. SPD-Europa-Spitzenkandidatin Katarina Barley sieht alle Demokratinnen und Demokraten in der Pflicht, darüber nachzudenken, warum die AfD trotz aller "Skandal" so hohe Werte eingefahren habe. Dagegen zeigt CDU-Vize Jens Spahn mit dem Finger auf die Berliner Regierungskoalition. Die Politik der Ampel stärke die Extreme, vor allem die extreme Rechte. Bei vielen Menschen sitze der Frust, die Wut und Enttäuschung sehr tief – und die Ampel habe den Schlüssel dazu in der Hand, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen

Laut dem Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap wanderten von SPD und FDP viele Wählerinnen und Wähler zur AfD: 570.000 sowie 430.000. Aber auch von der Union war der Zustrom mit 570.000 groß.

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Wählerwanderung zur AfD

Union: Sieg ohne großen Gewinn

CDU-Chef Friedrich Merz bemüht sich ein Stück weit, die hohen Werte für AfD und BSW zu relativieren: Er prognostiziert, dass AfD und BSW bei der Bundestagwahl 2025 schwächer abschneiden werden: "Die Europawahl ist immer anfällig für eine Denkzettelwahl", sagt er bei n-tv.

Umso mehr lobt Merz das Abschneiden der Union: Sie habe gemeinsam "einen ersten großen Erfolg" erzielt, betont er in Berlin. "Wir sind mit dieser Europawahl wieder zurück und zwar mit großem Abstand auf Platz eins unter den deutschen Parteien." Merz wie CSU-Chef Söder nutzen den Abend zu vernichtenden Urteilen über die Ampel. Merz spricht von einem "Desaster" für SPD, Grüne und FDP, Söder hält die Ampel für "abgewählt".

Was Merz und Söder nicht sagen: Die Union kann nur bedingt von der großen Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit der Ampel profitieren. Mehr als zehn Prozentpunkte geht es für die drei Ampelparteien zusammen nach unten - nur etwas mehr als einen Prozentpunkt für die Union nach oben. Und das trotz der Tatsache, dass CDU/CSU 2019 ihr schlechtestes Europawahlergebnis verzeichnet hatten.

Söder und die "Sondereffekte"

Die CSU muss in Bayern sogar ein leichtes Minus hinnehmen und landet im Freistaat unter der 40-Prozent-Marke. Parteichef Söder argumentiert einmal mehr nach einer Wahl mit einem außergewöhnlichen Faktor: 2019 habe CSU-Spitzenkandidat Manfred Weber die Chance gehabt, EU-Kommissionspräsident zu werden. Dieser "Sondereffekt" habe dieses Mal gefehlt. Nach der Landtagswahl hatte Söder den leichten Verlust der CSU auf den "Sondereffekt" Flugblattaffäre um Hubert Aiwanger zurückgeführt.

"Harte Niederlage"

Während die FDP sich trotz Verlusten zufrieden zeigt, lässt der Wahlabend insbesondere für die Grünen keinerlei Spielraum, ihrem Resultat irgendetwas Positives abzugewinnen: Von mehr als 20 auf rund 12 Prozent sackt die Partei ab. "Überhaupt nicht unser Anspruch", räumt der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour ein. "Das Ergebnis ist enttäuschend, aber auch ein Auftrag."

Die SPD muss im Vergleich zu ihrem bisherigen Europawahl-Tiefstwert von 2019 noch einmal Verluste verkraften. Bei keiner anderen Europawahl der vergangenen zwei Jahrzehnte schnitt eine Kanzlerpartei so schlecht ab. Die SPD-Spitze beschönigt nicht, spricht von einer "harten Niederlage" (SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert) und einem "Frustrierenden Ergebnis" (Parteichef Lars Klingbeil).

Knobloch warnt vor "verfestigten extremistischen Milieus"

Abgesehen von AfDlern sprechen Spitzenpolitiker erstaunlich wenig über die nächsten großen Wahlen in Deutschland: die Landtagswahlen in Ostdeutschland. Zwar lassen sich Europawahlergebnisse nicht auf Landtagswahlen übertragen. Doch sie sind ein Fingerzeig. In Thüringen beispielsweise kommt das BSW auf Anhieb auf 15 Prozent, die AfD klettert auf mehr als 30. Auch in Sachsen liegen beide Parteien zusammen bei rund 45 Prozent. Das lässt ahnen, wie schwierig dort eine Regierungsbildung im Herbst werden könnte.

Die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, warnt davor, das AfD-Ergebnis bei der Europawahl herunterzuspielen. Zwar habe die breite Mehrheit mit ihrer Stimme die Demokratie gestützt. Dieser Wahlabend zeige aber, "dass ein erschreckend großer Teil der Menschen mit Fakten und Argumenten im demokratischen Diskurs nicht mehr zu erreichen ist". Knobloch mahnt daher: "Gegen verfestigte extremistische Milieus, die sich in Wahlen immer deutlicher zeigen, muss die freiheitliche Gesellschaft ihre Mittel finden und auch nutzen."

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