Immer wieder ist zu beobachten, dass Menschen mit Falschbehauptungen Stimmung gegen Geflüchtete machen, vor allem im Internet. Der #Faktenfuchs setzte sich damit in den vergangenen Monaten immer wieder auseinander; beispielsweise mit der Falschbehauptung, dass Ukrainer deutsche Rente bekommen würden oder irreführenden Behauptungen zu Hartz-IV Leistungen für Ukrainer.
Aktuell behauptet ein YouTuber in einem Video mit mehr als 1,8 Millionen Klicks (Stand 11.11.22), in Bayern würden die ersten Immobilien "enteignet" werden, um Unterkünfte für Geflüchtete zu schaffen. Obwohl dies falsch ist, "warnt" der Mann, das sei erst der Anfang einer ganzen Reihe von Enteignungen.
Als Beispiel nennt er den Landkreis Fürstenfeldbruck, wo Geflüchtete nun in ein Altersheim in Oberschweinbach einziehen und die Bewohner vereinzelt ihre Zimmer wechselten, um Platz zu machen. Eine Sprecherin des Altersheims sagte dem #Faktenfuchs am Telefon: Das geschah freiwillig und hatte mit Enteignungen nichts zu tun.
#Faktenfuchs-Recherchen zeigen auch: In Bayern werden aktuell laut bayerischem Innenministerium und den Landkreisen keine Immobilien enteignet oder beschlagnahmt, um Flüchtlingsunterkünfte zu schaffen, nach Angaben des Ministeriums gebe es auch keine Pläne dafür. Rechtlich gibt es dafür große Hürden.
Etage im Altersheim wurde an den Landkreis Fürstenfeldbruck vermietet
Im Haus am Klostergarten, einem Altersheim in Oberschweinbach im Landkreis Fürstenfeldbruck, das der Youtuber in seinem viralen Video erwähnt, sind nur 80 von 137 Betten belegt, die Betreiber des Heims entscheiden sich deshalb, das Erdgeschoss extern zu vermieten.
Grund für die geringe Bettenauslastung sei das fehlende Pflegepersonal, teilt die Sprecherin des Heimbetreibers Korian mit: Es gebe nicht genügend Altenpfleger, um 137 Senioren zu betreuen. Nach Rücksprache mit den Bewohnern und deren Angehörigen habe man sich deshalb dazu entschieden, das Erdgeschoss an das Landratsamt Fürstenfeldbruck zu vermieten. Das sucht laut eigenen Angaben dringend nach Wohnraum für Geflüchtete.
Diese Entscheidung sorgte auch in den Medien für Aufsehen. Mehrere Zeitungen berichteten darüber; eine große Boulevardzeitung griff das Thema in einer Fernsehsendung auf und interviewte den Fürstenfeldbrucker Landrat Thomas Karmasin. Er sagte, dass jede Woche 50 Geflüchtete in seinen Landkreis kämen, die er unterbringen müsse. In diesem Zusammenhang sprach er auch von der Möglichkeit, notfalls "zur Beschlagnahme zu greifen, natürlich nicht von Häusern oder Wohnungen, aber von Gewerbeimmobilien oder ähnlichem".
Der Landkreis Fürstenfeldbruck prüft, ob eine Beschlagnahme in Frage kommt
Auf diese Aussage bezieht sich auch der YouTuber in dem eingangs genannten Video, er gibt sie allerdings falsch wieder. Statt von "Beschlagnahme" einer Immobilie spricht er von "Enteignung". Die Sprecherin des Landkreises schreibt dem #Faktenfuchs in einer E-Mail, in der Diskussion, die im Landkreis Fürstenfeldbruck geführt wird, gehe es um eine vorübergehende Nutzung von Immobilien, also um eine Beschlagnahme, nicht um eine Enteignung.
Auch der Augsburger Rechtsanwalt Bernd Müller, der 24 Jahre lang selbst hauptamtlich Erster Bürgermeister einer bayerischen Kleinstadt war und nun Kommunen berät, sagte dem #Faktenfuchs: "Enteignung ist Quatsch. Das findet definitiv nicht statt." Eine Enteignung sei der dauerhafte Entzug von Eigentum, sagt Müller. Eine Immobilie würde dann also nicht mehr dem ursprünglichen Eigentümer gehören, sondern dem Staat.
Landrat Karmasin warnt seit Wochen davor, dass die Kapazitäten für die Flüchtlingsunterbringung in seinem Landkreis bald erschöpft seien. Auf der Webseite des Landratsamtes steht in einer Mitteilung vom 13. Oktober 2022: "Das staatliche Landratsamt wird prüfen, ob öffentliche oder private Liegenschaften für die Flüchtlingsunterbringung beschlagnahmt werden müssen."
Hintergrund ist die Ankündigung von Landrat Karmasin, dem Freistaat nicht wie in der Vergangenheit die Schulturnhallen des Landkreises zu überlassen. Der Süddeutschen Zeitung sagte Karmasin, er sehe sich außerstande, der Bevölkerung zu vermitteln, dass der Politik nichts anderes einfalle, als möglichst viele Menschen in Schulturnhallen zu zwängen.
Bisher sei nichts beschlagnahmt worden, schreibt die Sprecherin des Landratsamts dem #Faktenfuchs. Die Prüfung sei aber noch nicht abgeschlossen - man denke dabei allerdings "in erster Linie an leerstehende größere, gewerbliche Objekte" und halte sich selbstverständlich an die rechtlichen Vorgaben.
Wie ist die Situation in Bayern?
Laut dem bayerischen Innenministerium sind keine Fälle der "jüngeren Vergangenheit" bekannt, in denen Flüchtlingsunterkünfte durch Beschlagnahme von Immobilien geschaffen wurden. Es gebe auch keine Pläne dafür.
In den Jahren 2015 und 2016, als besonders viele Menschen nach Deutschland flüchteten, seien vorübergehende Beschlagnahmen in Bayern und auch in anderen Bundesländern allerdings schon einmal Thema gewesen, schreibt eine Sprecherin des Bayerischen Landkreistags per Mail an den #Faktenfuchs.
Sie betont aber: Entscheidend sei, dass es damals um Hallen ging, nicht um Privatwohnungen.
Auch dieses Mal diskutierten die bayerischen Landkreise über "vielfältige Lösungen", so die Sprecherin des Bayerischen Landkreistags. Das könnten Turnhallen oder leerstehende Immobilien sein. Denn die Lage spitze sich zu: "Die Unterkünfte in den Landkreisen sind so gut wie voll." Man blicke mit Sorge auf den nahenden Winter.
Wäre eine Beschlagnahme rechtlich zulässig?
Müssen Immobilienbesitzer Angst vor einer Beschlagnahme haben? Verschiedene Juristen, mit denen der #Faktenfuchs gesprochen hat, glauben nicht, dass eine Beschlagnahme zu diesem Zweck in der aktuellen Situation rechtlich zulässig wäre. Aus verschiedenen Gründen.
Voraussetzung 1: Beschlagnahme muss zur Gefahrenabwehr dienen
In den meisten Bundesländern gibt es keine spezielle Regelung zur Beschlagnahme von Immobilien, um Geflüchtete unterzubringen. In Bayern kann deshalb nur die sicherheitsrechtliche Generalklausel, also Artikel 7 des Landesstraf- und Verordnungsgesetzes (LStVG) als Gesetzesgrundlage herangezogen werden, schreibt der Jurist Andreas Holzner vom Landratsamt Ebersberg auf eine Anfrage des #Faktenfuchs. Das sei als Rechtsgrundlage allerdings mit vielen Unsicherheiten verbunden. "Je mehr man in die Grundrechte eingreift, desto spezieller muss der Gesetzgeber die entsprechende Rechtsgrundlage ausgestalten", sagt er im Gespräch. In Bayern gibt es kein spezielles Gesetz dafür.
Die Generalklausel regelt, dass Sicherheitsbehörden in die Rechte anderer eingreifen dürfen, wenn es zur Gefahrenabwehr dient. Im konkreten Fall würde das bedeuten, dass eine drohende Gefahr, wie etwa eine drohende Obdachlosigkeit von Geflüchteten, nur durch die Beschlagnahme einer bestimmten, leerstehenden Immobilie abgewendet werden könnte - und sonst nicht. Das ist wichtig: Sobald Menschen in einem Haus wohnen oder es anderweitig genutzt wird, kann es nicht beschlagnahmt werden.
Voraussetzung 2: Behörden müssen beweisen, dass sie die Gefahr nicht selbst abwenden konnten
Bevor zum Beispiel der Landkreis Immobilien beschlagnahmen kann, müssten die Behörden nachweisen, dass sie selbst erfolglos versucht haben, Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Also zum Beispiel, indem auf eigene Unterkünfte zurückgegriffen wurde oder geeignete Räume angemietet werden. Die Beschlagnahme von Eigentum ist immer das letzte Mittel, da sind sich die Juristen, mit denen der #Faktenfuchs gesprochen hat, einig.
Erst, wenn die Notsituation trotz Bemühungen der Behörden dennoch eingetreten ist, also zum Beispiel Geflüchtete obdachlos geworden sind, könne man die Beschlagnahme von privatem Wohnraum überhaupt in Betracht ziehen, schrieb der Verwaltungsrechtler Matthias Dombert in einem Fachartikel bereits im Dezember 2015. Laut Dombert dürfte das in der Praxis nur schwer zu beweisen sein. Im Gespräch mit dem #Faktenfuchs konkretisiert er:
"Jede freie Turnhalle müsste genutzt werden, Zeltstädte und Containerdörfer aufgebaut werden. Das müsste alles scheitern, erst dann käme eine Beschlagnahme in Frage." Matthias Dombert, Rechtswissenschaftler
Voraussetzung 3: Gefahr muss unmittelbar bevorstehen
Ein Gebäude vorsorglich zu beschlagnahmen ist nicht zulässig. Wollen Behörden Immobilien, die ihnen nicht gehören und die sie nicht mieten können, für die Flüchtlingsunterbringung nutzen, so müsse die "Verwirklichung einer Gefahr" unmittelbar bevorstehen, schreibt Jurist Andreas Holzner in seiner Einschätzung an den #Faktenfuchs. Um im Beispiel zu bleiben: Es müsste unmittelbar absehbar sein, dass Geflüchtete in den Wintermonaten keine menschenwürdige Unterkunft finden, damit ein Landkreis eine Immobilie beschlagnahmen könnte.
Voraussetzung 4: Beschlagnahme muss verhältnismäßig sein
Außerdem müsse auch immer noch geklärt werden, ob eine Beschlagnahme wirklich verhältnismäßig sei, sagt Holzner. Der Eingriff in das Grundrecht auf Eigentum, den eine Beschlagnahme darstelle, müsse immer so gering wie möglich gehalten werden – deshalb sei übrigens eine Enteignung kaum denkbar, um Unterkünfte für Geflüchtete zu schaffen.
Die Beschlagnahme sei immer auch nur eine Übergangslösung, sagt Winfried Kluth, Professor für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, im Gespräch mit dem #Faktenfuchs. Sie sei nur so lange zulässig, "bis man auf anderen Wegen, etwa durch Containerwohnungen, eine andere Möglichkeit geschaffen hat, die Menschen angemessen unterzubringen".'
Die Beschlagnahme müsse dann laut dem Ebersberger Juristen Holzner zeitlich auf das "unbedingt Notwendige beschränkt" werden. Die Behörde wäre verpflichtet, sich weiterhin um Alternativen zu bemühen. "Bei einer Beschlagnahme wird nicht das Eigentum an dem Grundstück entzogen, sondern es wird nur das Nutzungsrecht vorübergehend eingeschränkt, solange es dauert, eigene kommunale Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen." Eine Beschlagnahme gehe auch mit einer vollständigen Kostenübernahme einher: "Das heißt also, dass für Nutzung auch eine Entschädigung gezahlt wird", sagt Kluth von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Die Tatsache, dass eine Beschlagnahme immer nur letztes Mittel sein kann, bringe verschiedene Probleme und Unsicherheiten mit sich, zu denen es bislang noch keine einheitliche Rechtsprechung gebe, schreibt auch Winfried Kluth in einem Fachartikel auf "Legal Tribune Online".
Es stelle sich zum Beispiel die Frage, wann der Preis für die Anmietung von Räumlichkeiten noch verhältnismäßig ist, oder ob Sporthallen städtischer Schulen dauerhaft genutzt werden dürften, obwohl dann Unterricht ausfalle. Die Generalklausel im LStVG beantworte diese Frage zwar nicht direkt. "Grundsätzlich wird man sagen können, das für einen absehbaren Zeitraum die Unterbringung bedeutsamer ist als der Ausfall des Sportunterrichts", sagt Kluth. Vor allem dann, wenn Kommunen dadurch Zeit gewännen, eine alternative Unterbringung zu organisieren. "Aber nicht auf Dauer."
Fazit
In Bayern werden keine Immobilien beschlagnahmt oder gar enteignet, um Unterkünfte für Geflüchtete zu schaffen. Das ist laut bayerischem Innenministerium auch nicht geplant. Während eine Enteignung – also der dauerhafte Entzug des Eigentums – laut Juristen nicht in Frage kommt, ist eine zeitlich begrenzte Beschlagnahme nur dann rechtlich zulässig, wenn sie der "unmittelbaren Gefahrenabwehr" dient. Das bedeutet, dass die Geflüchteten sonst zum Beispiel obdachlos werden würden.
Bevor Immobilien beschlagnahmt werden können, muss der Landkreis außerdem zuerst alle anderen Alternativen ausgeschöpft haben – also etwa Immobilien angemietet haben, Wohncontainer aufgestellt haben oder städtische Turnhallen genutzt haben. Nur wenn das Unterkunftsproblem dann immer noch besteht, ist es laut Experten und Gesetzgebung rechtlich zulässig, leerstehende private Immobilien zu beschlagnahmen. Die Eigentümer würden für diese zeitlich befristete Nutzung Geld bekommen.
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