18 Minuten lang läuft Jil Meiteles schweigend durch die Münchner Innenstadt. Und mit ihr viele weitere Demonstranten. Im Hebräischen bedeute die Zahl 18 "Chai", erklärt Meiteles: "Und 'Chai' bedeutet auch 'Leben'". Die Menschen sind an diesem Sonntag Mitte November hier, um auf das Schicksal der rund 240 israelischen Geiseln aufmerksam zu machen, die sich noch immer in den Händen der radikal-islamische Hamas befinden. "Man fühlt sich einfach hilflos. Und wenn man spazieren gehen kann, dann ist das schon mal etwas", sagt Meiteles. Sie hat die Demonstration mitorganisiert. Das Motto: "Run for their lives", was so viel wie "Lauf für deren Leben" bedeutet.
Manche Juden nehmen Symbole ab - aus Angst
Ein Besuch bei Jil Meiteles zu Hause. Sie ist Jüdin und in München aufgewachsen, hat aber zehn Jahre in Israel gelebt und viele Freunde und Bekannte dort. An ihrem äußeren Türrahmen hängt eine sogenannte "Mesusa" - ein Behälter mit einem Stück Pergament darin, wie man ihn an vielen traditionellen jüdischen Türrahmen findet. "Sie soll mein Haus beschützen", sagt Meiteles. Manche Juden würden ihre Mesusa inzwischen abnehmen oder nach innen hängen - aus Angst. Meiteles will sich nicht verstecken: "Meine Großeltern haben sich verstecken müssen, so haben sie den Holocaust überlebt. Ich habe mir immer geschworen: Ich mache das nicht."
Seit die Hamas den Krieg am 7. Oktober begonnen hat, ist die Welt für sie eine andere. Sie sei an jenem Samstagmorgen mit zahlreichen Nachrichten auf ihrem Handy aufgewacht, erzählt Meiteles. Das ganze Wochenende über habe sie ihr Haus nicht verlassen, sondern Nachrichten gelesen und "durchgeheult". Man könne sich nicht vorstellen, "dass so viele Menschen einfach abgeschlachtet wurden", sagt Meiteles.
"Wer schuldig ist, ist die Hamas"
Seit Jahren engagiert sie sich für mehr Dialog zwischen den Religionen, unter anderem stellt sie sich bei dem Gesprächsformat "Meet a Jew" zur Verfügung. Hier beantworten Jüdinnen und Juden Fragen. Heute ist Jil Meiteles in einer Online-Schalte mit einer Schulklasse. Zunächst werden allgemeine Fragen gestellt, wie: "Was bedeutet koscheres Essen?" Aber es geht auch um den Krieg - und um die Frage nach den palästinensischen Opfern durch israelische Militärschläge im Gazastreifen. Sie und andere Juden seien oft mit dem Vorwurf konfrontiert, nicht um palästinensische Kinder zu trauern. "Stimmt nicht", sagt Meiteles. "Kein Kind ist an irgendetwas schuld. Wer schuldig ist, ist die Hamas."
Pro-Palästina-Demo: Leichensäcke symbolisieren tote Kinder
Auf einer Pro-Palästina-Demonstration am Samstag in Augsburg werfen einige Teilnehmer Medien und Journalisten vor, nur das Leid der Israelis, nicht aber das der Palästinenser zu sehen und einseitig zu berichten. "Leider werden die Nachrichten von deutschen Medien verdreht", sagt eine Rednerin auf der Kundgebung in ihr Mikrofon.
Fakt ist: Es gibt unzählige Kinder, die durch die israelischen Militärschläge im Gazastreifen gestorben sind. Internationale Organisationen wie die WHO oder Unicef beklagen die katastrophale humanitäre Lage gerade für Kinder. Darauf weisen auch die Demonstranten in Augsburg hin. Manche halten rot bemalte Leichensäcke im Arm, die Blut und tote palästinensischen Kinder in Gaza symbolisieren sollen. "Deutschland toleriert, Israel bombardiert", skandiert die Menge. Dass die Terror-Organisation Hamas mit ihrem Angriff für den Krieg verantwortlich sein soll, hört man hier kaum. Auch die Rednerin will sich dem BR gegenüber nicht zur Hamas äußern: "Es wird immer falsch verstanden, es wird so umgedreht, wie es einem grad passt. Deswegen sage ich dazu auf jeden Fall nichts in den deutschen Medien."
Auch Lailan Ali ist mit ihren drei Kindern hier. Sie demonstriere, "weil ich sehe, wie die Kinder zerstückelt aus den Trümmern rauskommen". Sie könne das Weinen und Leiden nicht mehr ertragen. Sobald man den Fernseher anschalte, sehe man Leichen: "Nur von Kindern", sagt Ali. "Keine Erwachsenen, keine Terroristen." Sie sei nicht gegen Muslime, gegen Christen oder gegen Juden: "Ich bin nur gegen dieses Morden." Sie habe selbst Familie im Gazastreifen, Cousins und eine ältere Oma. "Keiner ist übriggeblieben, alle sind tot", sagt Ali und beginnt zu weinen.
Fußballspiele unter Polizeischutz in München
Trauer ist das, was viele Juden und Palästinenser gemeinsam haben. Armond Presser ist Vorstand des Fußballvereins TSV Maccabi München. Seit Wochen müssen die Spiele unter Polizeischutz stattfinden, so auch vergangenen Sonntag. Einige Partien mussten wegen Sicherheitsbedenken abgesagt werden. Der TSV Maccabi steht für jüdische Identität, obwohl hier längst nicht alle Spieler jüdisch sind. "Das sind Spieler aus aller Herren Länder", sagt Presser und zeigt auf seine Mannschaft auf dem Feld. "Es spielt überhaupt keine Rolle, wer an was glaubt. Hier geht es darum, dass wir unser Miteinander leben."
Aber Presser spricht auch von einer "neuen Wirklichkeit" seit dem 7. Oktober. Er hat Angst um seinen Verein, um das, was in Jahrzehnten aufgebaut wurde. Die Zahl antisemitischer Straftaten ist seit Kriegsausbruch in Deutschland gestiegen. Ein Maccabi-Spieler berichtet von antisemitischen Beleidigungen auf dem Platz und fügt hinzu: "Das Thema ist immer schon da, wird aber Jahr für Jahr größer." Dass Maccabi das Spiel gegen Oberföhring mit 8:2 gewinnt, ist nur ein schwacher Trost.
Laufen "bis unsere Omas, Großväter, Kinder, Babys zurückkommen"
Jil Meiteles will sich weiter für die israelischen Geiseln starkmachen. Bei ihr zu Hausen liegen Plakate mit den Gesichtern der israelischen Geiseln, auch bei der Demonstration hat sie die Bilder dabei. "Das sind ja echte Menschen", sagt Meiteles. "Solange die nicht zurück sind, wird sich diese ganze Lage leider auch nicht legen." So sieht das auch Guy Katz, er hat die Demo in München zusammen mit Meiteles organisiert und will weitermachen: "Wir laufen jede Woche. Bis unsere Omas, Großväter, Kinder, Babys zurückkommen."
Bis die Geiseln freikommen. Was bedeutet das für die Palästinenser? Wie soll dieser Konflikt enden? "Das fragen wir uns seit 75 Jahren", sagt Katz. Wenn Militär gegen Militär kämpfe, sei das das eine. Der Angriff der Hamas sei jedoch etwas anderes gewesen. "Was wir diesmal gesehen haben, das haben wir seit dem Holocaust nicht gesehen", so Katz und sagt im nächsten Atemzug: "Uns tun die Palästinenser auch leid, die davon betroffen sind und nichts mit Hamas zu tun haben." Deswegen sei auch er für den Slogan: "Free palestine!" - "Freies Palästina". Frei von der Hamas, fügt er schnell noch hinzu.
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