Seit dem Terrormassaker der Hamas vom 7. Oktober hat der Slogan "From the river to the sea – Palestine will be free" heftige politische Reaktionen und Emotionen ausgelöst. Handelt es sich um einen Aufruf zur Vernichtung Israels, um Verneinung des Existenzrechts des jüdischen Staates? Einen Aufruf, der nach dem 7. Oktober für zahllose Jüdinnen und Juden in Israel und in der Diaspora wie ein beständiger erneuter Mordaufruf klingt? Oder ist mit dem Slogan das Recht der Palästinenserinnen und Palästinenser auf ein Leben in Würde, Freiheit und Sicherheit gemeint, im Gazastreifen, dem besetzten Westjordanland und Ost-Jerusalem? Oder im gesamten ehemaligen britischen Mandatsgebiet Palästina? Kein Zweifel: Es geht an die Grundfeste des Nahostkonflikts.
- Zum Hintergrund: "Nahostkonflikt - Palästinenser und die Nakba"
Welches geografische Gebiet ist gemeint?
Der Jordan und das Mittelmeer markierten die östliche und westliche Grenze des Gebiets, das bis 1948 das britische Mandatsgebiet Palästina bildete. Die Vereinten Nationen teilten 1947 das Territorium auf, in einen jüdischen Staat und einen palästinensischen Staat. Die palästinensischen und arabischen Anführer lehnten damals den Teilungsplan ab, bestanden darauf, das gesamte Gebiet für sich zu beanspruchen, rückten mit Truppenverbänden vor. Nach der Staatsgründung Israels ein Jahr später, dem Unabhängigkeitskrieg und der Vertreibung und Flucht von rund 700.000 Palästinensern aus ihrer Heimat, kam es 1949 zum Waffenstillstandsabkommen.
Der Verlauf dieser territorialen Festlegung markiert bis heute die sogenannte "grüne Grenze", obgleich sie, wie Joseph Croitoru vor einem Monat in seinem detaillierten, sehr lesenswerten Artikel in der "Zeit" hervorhebt, "nach 1967 von allen offiziellen Landkarten des israelischen Staates" verschwand, "die bis dahin die Waffenstillstandslinie von 1949 und damit die temporäre Grenze zu Jordanien markiert hatte." Der Gazastreifen, das Westjordanland, Ost-Jerusalem und die Golanhöhen kamen nach dem Sechs Tage Krieg von 1967 unter israelische Kontrolle. 2005 rückten israelische Soldaten und Staatsbürger aus dem Gazastreifen ab. Das besetzte Westjordanland wurde, im Gegensatz zu Ost-Jerusalem und den Golanhöhen, nicht annektiert. Rechtsnationale israelische Kräfte hatten seit langem das gesamte Gebiet zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer für Israel beansprucht.
Die Likud-Gründungsakte 1977
Rund 30 Jahre nach Staatsgründung kam bei den Parlamentswahlen 1977 zum ersten Mal das rechtsnationale Lager an die politische Macht: Der Likud, der sich vier Jahre zuvor aus mehreren kleineren Gruppierungen sowie der vormaligen Herut-Partei von Menachem Begin zusammensetzte. In dem Parteiprogramm des Likud von 1977 wurde das "Recht des jüdischen Volkes auf das Land Israel" als ewig und unbestreitbar bezeichnet. Die Likud-Partei werde "Judäa und Samaria keiner ausländischen Verwaltung übergeben" – damit war das besetzte Westjordanland gemeint.
Und zudem wurde festgehalten: "Zwischen dem Meer und dem Jordan wird es nur israelische Souveränität geben." Dieser Passus blieb in den darauffolgenden Jahrzehnten fester Bestandteil der Programmatik des Likud und seiner Premierminister. Als im Dezember 2022 der langjährige Likud-Parteivorsitzende Benjamin Netanjahu zusammen mit zwei ultraorthodoxen und zwei rechtsextremen Parteien eine neue Regierung bildete, fand die Feststellung in den Koalitionsvertrag erneut Aufnahme: Zwischen dem Meer und dem Fluss werde es nur israelische Souveränität geben.
Der Hamas-Gebrauch des Slogans
In ihrer Gründungscharta, kurz nach Ausbruch der ersten Intifada 1987 veröffentlicht, machte die Hamas unmissverständlich klar, dass ihr langfristiges Ziel die Zerstörung Israels sei. Der "Heilige Krieg" müsse geführt werden, um "Palästina zu befreien." Auch als die Hamas längst aus dem Schatten der vormals dominanten Palästinenser-Bewegung, der säkularen Fatah von Jassir Arafat, herausgetreten war, bekräftigte der damalige Hamas-Chef Khaled Mashaal, zum 25jährigen Gründungstag der Hamas im Gazastreifen: "Palästina gehört uns vom Fluss bis zum Meer und vom Süden bis zum Norden". Es würde "keine Zugeständnisse für auch nur einen Zentimeter des Landes geben."
An der "vollständigen Befreiung Palästinas" hielt auch die zweite Hamas-Charta von 2017 fest. In der neuen Charta, die 42 Artikel umfasste, hieß es im Artikel 20: "Hamas lehnt jede Alternative zu einer kompletten und vollständigen Befreiung von Palästina ab, vom Fluss zum Meer."
Hamas-Verbot in Deutschland im November 2023
Bundesinnenministerin Nancy Faeser verbot Anfang November letzten Jahres die Betätigung der Terrororganisation Hamas und des internationalen Netzwerks "Samidoun" in Deutschland. In ihrer Begründung erklärte die Ministerin, "die Tätigkeit der Hamas im Bundesgebiet läuft Strafgesetzen zuwider und richtet sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung im Sinne von Artikel 9 Absatz 2 Grundgesetz." Darüber hinaus beeinträchtige ihr Zweck oder ihre Tätigkeit erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Im letzten Satz des Artikels 3 des Hamas-Verbots hieß es – am Ende einer langen Liste von in Deutschland verbotenen Kennzeichen, Flaggen und Stirnbändern: "sowie die Parole 'vom Fluss bis zum Meer' (auf Deutsch oder anderen Sprachen)".
Für die Strafverfolgungsbehörden in Deutschland galt auf der Grundlage dieses Verbots, dass bei Demonstrationen und Kundgebungen eingeschritten werden musste, sobald eben Symbole, Fahnen und der Slogan gezeigt oder gerufen wurden. So erklärte die Generalstaatsanwaltschaft München anschließend, die Verwendung dieses Slogans sei in ganz Bayern verboten. Polizei und Staatsanwaltschaften in Bayern würden daher künftig "auch beim isolierten Verwenden des Slogans – egal in welcher Sprache – Ermittlungen wegen des Verwendens von Kennzeichen terroristischer Organisationen einleiten", so die Erklärung der Münchner Generalstaatsanwaltschaft.
Staatsanwaltschaft und Polizei in Bayern würden daher künftig auch beim isolierten Verwenden des Slogans – egal in welcher Sprache – Ermittlungen wegen des Verwendens von Kennzeichen terroristischer Organisationen einleiten.
Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs
Am 19. Juni 2024 hatten Veranstalter einer propalästinensischen Kundgebung bei der Stadt München beantragt, am 1. Juli auf dem Goetheplatz eine Versammlung durchzuführen, mit dem Thema: "Gegen die Unterdrückung und Ungleichbehandlung von Palästinenser:innen im gesamten Gebiet vom Fluss bis zum Meer; gegen die Unterstützung und Befeuerung dieser Unterdrückung durch die deutsche Politik und für Frieden und Freiheit für alle Menschen dort!" Es würden 20 Teilnehmer erwartet. Dabei würden die Teilnehmer Plakate mit den Aufschriften mitführen: "From the river to the sea, Palestine will be free!", "From the river to the sea, we want justice and equality!" und "From the sea to the river, weapons you shall not deliver".
Die Stadt München verlangte daraufhin, dass bestimmte Auflagen eingehalten werden müssten. Das öffentliche Zeichen "von Emblemen, Kennzeichen oder Fahnen von verbotenen und/oder terroristischen Organisationen ist untersagt." Und weiter: "Darunter fällt auch die Parole 'Vom Fluss bis zum Meer…' in Deutsch oder in anderen Sprachen; als Schriftzug, Ausruf, Musikstück und anderen Kundgabeformen."
Die Veranstalter klagten gegen die Auflagen vor dem Verwaltungsgericht und unterlagen. Es sei offen, ob die Verwendung der genannten Slogans strafbar sei, vieles spreche jedoch dafür. "Die deshalb erforderliche Interessenabwägung falle zu Lasten der Antragstellerin aus." Umgehend wandten sich die Veranstalter mit einem Eilantrag an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof – und hatten Erfolg. Die Versammlungsbeschränkung, die die Stadt ausgesprochen habe, bezüglich der Parole 'From the river to the sea' erachtete der Verwaltungsgerichtshof "als voraussichtlich nicht rechtmäßig" und gab der Beschwerde der Veranstalter statt.
Straftatbestand? Umstände des Einzelfalls
Die Begründung: Die Gefahrenprognose der Behörden rechtfertige "unter Berücksichtigung der Bedeutung der grundgesetzlich geschützten Versammlungsfreiheit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung keine derartige Beschränkung." Denn ob die Verwendung der Parole einen Straftatbestand erfülle, hänge von den Umständen des Einzelfalls und insbesondere davon ab, ob ein erkennbarer Bezug zur Hamas oder anderen verbotenen Vereinigungen vorliege. Konkrete Anhaltspunkte für einen solchen Bezug habe die Landeshauptstadt München im Rahmen ihrer Gefahrenprognose nicht darlegen können.
Die Untersagung der Parole beruhe bereits aufgrund der eigenen Ausführungen der Landeshauptstadt im Bescheid nur auf Vermutungen. Ausdrücklich wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof darauf hin, dass mit der Entscheidung "keine Legalisierungswirkung betreffend die Parole einhergehe." Polizei und Staatsanwaltschaften bliebe es "unbenommen, im Einzelfall strafrechtlich relevantes Verhalten als solches zu verfolgen."
Zum Hören (27.6.): Urteil: Kein pauschales Verbot von pro-palästinensischem Slogan
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