Ahmed Kurt steht vor einer Frankiermaschine in der Lindauer Sozialstation. Der graue Kasten sieht in etwa so aus wie ein Drucker. Links steckt er einen Brief hinein, rechts wirft die Maschine ihn fertig für den Postversand wieder aus. Später wird Ahmed Kurt Essen herrichten und es mit einer Kollegin zusammen ausfahren. In diesen Tagen soll er aber bereits eine eigene Tour übernehmen.
Arbeiten für 80 Cent die Stunde
Früher in der Türkei war Ahmed Kurt Geschichtslehrer. Jetzt arbeitet er hier für wenig Geld: "Von uns direkt bekommt er keinen Lohn. Er schreibt die gearbeiteten Stunden auf und bekommt die dann über die Ausländerbehörde bezahlt – mit derzeit 80 Cent pro Stunde", erklärt Verwaltungsleiter Georg Schwarz. Es ist ein gemeinnütziger Job, denn: Offiziell arbeiten darf Ahmed Kurt noch nicht. "Mehr gibt sein Status im Moment noch nicht her", sagt Schwarz.
Geflüchteter will Deutschland etwas zurückgeben
Vor fünf Monaten ist Kurt mit seiner Familie aus der Türkei nach Deutschland geflohen. Ihm ist es wichtig, etwas zu tun. Er sagt: "Wir bekommen Unterstützung vom deutschen Staat. Und wir sehen uns in der Schuld, das, was wir bekommen, zurückzugeben." Das wolle er gerne mit ehrenamtlicher Arbeit machen. "Egal was, ich würde jede Arbeit machen", sagt er.
Sein Chef spricht von einem Gewinn. Dass Ahmed Kurt gerade sprachlich derartige Fortschritte mache und sich innerhalb von nur wenigen Monaten bereits gut verständigen könne, hätte er nicht gedacht, sagt Georg Schwarz. "Das funktioniert hervorragend." Inzwischen seien digitale Übersetzer nur noch bei längeren Texten notwendig.
Asylbewerber arbeiten gemeinnützig
In Lindau arbeiten immer mehr Asylbewerber freiwillig in gemeinnützigen Jobs. Über die Initiative eines Stadttreffs sind innerhalb von wenigen Wochen allein 14 Menschen an Einrichtungen im Sozial- und Kulturbereich vermittelt worden; weitere zehn sollen demnächst mit ehrenamtlichen Jobs starten. Sie arbeiten in einem Sozialkaufhaus, fahren Essen für die Sozialstation an ältere Menschen aus, wie Ahmed Kurt, helfen in der Betreuung im Kindergarten, arbeiten in der Pflege und auf dem städtischen Bauhof als Baggerfahrer.
Gabriele Zobel, die Leiterin des Mehrgenerationenhauses "Treffpunkt Zech e.V.", sagt: "Das ist rein eine gemeinnützige Arbeit. Wir haben die Chance darin gesehen, dass sie [Anm. Red.: die Asylsuchenden] Deutsch lernen, dass sie sich integrieren, dass sie unsere Kultur mitkriegen und dass es ein gegenseitiger Gewinn ist.“
Arbeiten mit vielen Hindernissen
Gemeinnützige Arbeit für 20 Stunden die Woche dürften Asylbewerber von Anfang an leisten. Grundsätzlich dürfen sie auch regulär arbeiten, allerdings nicht in den ersten drei Monaten nach Antragsstellung ihres Asylgesuchs. Je nach Aufenthaltsstatus und je nachdem, ob sie in einer Aufnahmeeinrichtung leben oder nicht, ist ein Zugang zum Arbeitsmarkt dann früher oder später möglich.
Allerdings mit etlichen Hindernissen, wie die Agentur für Arbeit schreibt. So stehen etwa "häufig die traumatische Flucht, unklare Bleibeperspektiven, fehlende Sprachkenntnisse, nicht vorhandene oder nicht anerkannte Berufsabschlüsse einer schnellen Arbeitsmarktintegration entgegen", wie es in einem aktuellen Arbeitsmarktbericht dazu heißt. Eine Hürde ist auch die Dauer, in der über die Asylanträge entschieden wird.
Oft viele Monate ohne Arbeit
Personen, die in Bayern etwa in einem ANKER-Zentrum leben, dürfen laut Innenministerium nach neun Monaten arbeiten, auch wenn das Asylverfahren bis dahin noch nicht abgeschlossen ist. In der Zeit davor muss die Ausländerbehörde zustimmen. Zudem muss in aller Regel das Jobcenter grünes Licht geben, etwa wenn ein Asylverfahren noch läuft. Es gilt ein Vorrangprinzip. So soll sichergestellt werden, dass es für die gewünschte Arbeitsstelle nicht möglicherweise Interesse von deutschen beziehungsweise europäischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gibt. Flüchtlinge aus sogenannten sicheren Herkunftsländern, wie Albanien, Serbien und Ghana, bekommen grundsätzlich keinen Zugang zum Arbeitsmarkt.
Immer mehr Beschäftigte sind Geflüchtete
Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine sind die Zahlen Geflüchteter in Deutschland nach 2015 und 2016 noch einmal deutlich gestiegen. Im vergangenen Jahr lebten insgesamt mehr als drei Millionen Menschen mit Fluchtgeschichte in Deutschland. Rund 1,1 Millionen Menschen davon sind aus der Ukraine geflohen. Sie müssen das Asylverfahren nicht durchlaufen, sollen vor der Integration in den Arbeitsmarkt allerdings Sprachkurse besuchen.
Allein im Landkreis Lindau verzeichnet das Landratsamt derzeit 5.347 Personen mit Fluchthintergrund, davon sind rund ein Fünftel ukrainische Kriegsflüchtlinge. Die Notunterkünfte seien nahezu voll belegt, heißt es. "Wie viele Personen tatsächlich erwerbstätig sind, entzieht sich unserer Kenntnis", schreibt das Landratsamt auf Nachfrage. Bundesweit sieht die Agentur für Arbeit jedoch eine "positive Tendenz" und beziffert die Beschäftigungsquote unter den Menschen aus den Hauptherkunftsländern, wie etwa Syrien, mit rund 40 Prozent.
Integration über freiwillige Arbeit
Zuletzt hatte etwa der Landkreistag eine Arbeitspflicht für Flüchtlinge gefordert. Das ist allerdings umstritten. Und wie das Beispiel Lindau zeigt, wollen viele Menschen arbeiten und freiwillig etwas zurückgeben. Ein gemeinnütziger Job, dabei Deutsch lernen, Kontakte knüpfen – Gabriele Zobel sagt: "Wir sind ganz begeistert, wie gut das klappt. Das ist einfach für uns alle gut." Nicht zuletzt hofft Zobel darauf, dass Asylbewerber über diesen Weg schnell Anknüpfungspunkte für eine spätere sozialversicherungspflichtige Arbeit finden.
- Zum Artikel: Arbeitspflicht für Flüchtlinge – wäre das sinnvoll?
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