Das "stille Örtchen" der Deutschen ist nicht die Toilette, es ist das eigene Auto. Denn hier sitzen sie oft ganz allein. Laut den Angaben des Bundesumweltministeriums nutzen nur vier Prozent der Bevölkerung aktiv Fahrgemeinschaften. Fast zwei Drittel ihrer Pkw-Strecken fahren die fast täglichen Autofahrerinnen und Autofahrer ohne Begleitung.
Mitfahrbänke, die besonders in kleinen Kommunen zum geregelten Trampen einladen, sollen ein Gegenmittel sein: Je mehr Menschen "mitfahren", desto mehr klimaschädliche Emissionen werden eingespart. So weit die Theorie, aber sind die vielen Bänke in der Praxis mehr als ein Symbol? Wir wagen den Selbstversuch: Im Winter, wenn die Tage kurz und die Bänke eingeschneit sind, trete ich eine Reise quer durch Bayern an. Von der südlichsten Mitfahrbank Bayerns im Oberallgäu mehr als 500 Kilometer über Land bis an den Main.
Start in "Bayerisch Sibirien"
Die südlichste Mitfahrbank Bayerns steht auf 1.044 Metern über dem Meeresspiegel. Im beschaulichen Örtchen Balderschwang. Das ist, mit Blick auf die Einwohnerzahl, die zweitkleinste Gemeinde Bayerns. Weil es hier so viel schneit, wird Balderschwang auch "Bayerisch Sibirien" genannt. Nirgendwo in Deutschland gibt es so viel Niederschlag wie hier. Als ich den Selbstversuch starte, habe ich Glück. Die Sonne scheint und weil es in der vergangenen Nacht geschneit hat, ist es fast kitschig schön: Die Bäume sehen aus, als seien sie sorgfältig mit Zuckerguss beträufelt worden.
Ich entdecke die Mitfahrbank schließlich schräg gegenüber von der Freiwilligen Feuerwehr. Sie ist schon besetzt. Nicht von potenziellen Mitfahrern, sondern von einem kompakten, rund 60 Zentimeter Meter hohen Schneeblock. Ich schaufle mir eine kleine Kuhle in den Schnee und setze mich hinein.
Transportmittel dank "rotem Kittel"
Es schlägt neun Uhr. Gefühlt bin ich spät dran. Der Berufsverkehr ist schon durch – die wenigen Autos, die vorbeifahren, steuern meist eines der Hotels an. Der nächste Bus fährt erst in fünf Stunden. Nach 40 Minuten stelle ich mich vor die Bank und winke den Autos zu. Für mehr Sichtbarkeit trage ich eine rote Warnweste.
Ein Ehepaar hält an – echte Balderschwanger. Von der Mitfahrbank haben sie noch nie gehört, sie fahren aber zum Einkaufen nach Fischen und nehmen mich mit. Warum sie mich mitgenommen haben? "Weil sie einen roten Kittel anhatten", sagt Thomas Bilgeri. "Sonst hätte ich nicht angehalten." Bilgeri dachte zuerst, ich will ihn auf Straßenschäden aufmerksam machen.
Warten will gewohnt sein
Ohne eigenes Auto in Balderschwang zurechtzukommen, sei kaum möglich, sagt er. "Ich bin das auch nicht gewohnt, warten. Seit ich mit dem Auto fahren kann, fahre ich Auto oder Motorrad." Seine Frau Elfriede sagt: "Sie schauen jetzt nicht so gefährlich aus, aber wenn jetzt jemand ein bisschen verwegen aussieht, dann denke ich mir schon, ach, den nehm' ich lieber nicht mit." Wir fahren über den Riedbergpass, nach 20 Minuten sind wir in Fischen.
Ab Fischen gabelt mich Jojo auf. Auch er hat von den Mitfahrbänken noch nie etwas gehört. "Das ist ja schade. Weil an sich ist das ja eine geniale Idee", sagt er. "Aber das ist genau das Problem, da wird Geld in die Hand genommen, für das, dass es aufgebaut wird. Aber es wird nicht kommuniziert, dass es das gibt."
Nutzung der Mitfahrbänke: "Viel Luft nach oben"
Sarah Schmidberger und die 28 Kommunen der Oberallgäuer Regionalentwicklung haben die Bänke hier aufgestellt. Jojos Einwurf spiele ich gleich weiter: "Also es gibt noch viel Luft nach oben und wir versuchen es durch Öffentlichkeitsarbeit zu bewerben", sagt sie. Schmidberger habe selbst schon einmal mit einer Kollegin eine Mitfahrbänke-Tour unternommen, um die Bänke zu bewerben. "Weil, wenn es dann mal genutzt wird, bekommen wir auch viele Rückmeldungen, dass es ja total toll war und sie nette Leute kennengelernt haben", sagt sie.
Die 58 Bänke, die es seit gut einem Jahr hier gibt, haben insgesamt rund 107.000 Euro gekostet. Die EU übernahm rund 40 Prozent der Kosten, den Rest haben sich die beteiligten Gemeinden unter sich aufgeteilt.
Sind Sammel-Taxis eine bessere Alternative?
Am ersten Tag meiner Reise werde ich noch fünfmal mitgenommen. Ich komme nach Dietmannsried, wo mich zwei Fußgängerinnen auf der Bank bemitleiden. Von dem Konzept Mitfahrbank sind sie nicht begeistert. "Ich steige in irgendein fremdes Auto und weiß ja nicht, was hat derjenige vor? Fährt der wirklich nach Probstried oder nimmt er eine Abkürzung in den Wald? Weiß ich doch nicht!", sagt die eine.
Ein Sammel-Taxi auf Zuruf halten sie auf dem Land für deutlich sinnvoller. Da habe man mehr Planungssicherheit. Nach unserem Gespräch würden mich die beiden dann doch mitnehmen, sagen sie lachend. "Jetzt kennen wir Sie ja, aber das sieht man nicht beim Vorbeifahren."
Mitfahrbank goes digital
Ich habe aber auch Erfolgserlebnisse: Von Hopferbach will ich zum Beispiel in das nur elf Kilometer entfernte Ottobeuren weiter. Auf dieser Strecke gibt es nicht einmal eine Busverbindung, weil die Orte in unterschiedlichen Landkreisen liegen. An der Mitfahrbank dagegen warte ich nur zwei Minuten, schon sitze ich in Andrés Auto.
Am Marktplatz, am Fuße der prächtigen Klosterkirche, holt Helmut Scharpf mich ab. Er erklärt mir, warum alle Oberallgäuer Mitfahrbänke mit einem QR-Code ausgestattet sind. "Wenn man den scannt, wird ein Fahrgesuch eingestellt. Und wenn jemand die Strecke gerade anbietet, dann kriegt dieser Anbieter eine Push-Nachricht, dass da jemand sitzt und mitgenommen werden möchte", sagt er. Man könne also auf Wunsch vom Analogen ins Digitale wechseln und die Sichtbarkeit erhöhen.
Auto "auch mal stehen lassen"
Helmut Scharpf hat die Mitfahrplattform "fahrmob" gegründet, die potenzielle Fahrerinnen und Mitfahrer zusammenbringen soll. Ein schönes Beispiel, warum es so eine Plattform braucht, sei ein Betrieb in Memmingen, zehn Kilometer entfernt. Dort arbeiten 66 Ottobeurer, erzählt Scharpf. Allerdings gebe es nur eine einzige Fahrgemeinschaft mit zwei Personen. Pro Tag fahren dorthin also 65 Pkw hin und her.
Wie die Mitfahrbänke ist seine Plattform für die Kurzstrecke konzipiert. Allerdings gibt es auf "fahrmob" derzeit mehr potenzielle Fahrer als Suchende. "Weil hier jeder sein Auto hat", sagt Scharpf. Man müsse die Leute erst mal auf die Idee bringen, das eigene Auto stehenzulassen und bei jemand anderem mitzufahren.
Deutschlandweit schon über 3.000 Mitfahrbänke
Am ersten Tag schaffe ich rund 100 Kilometer Strecke über Land bis nach Memmingen. An Tag zwei nimmt mich jemand ein großes Stück mit – bis nach Aichach, wo ich Uwe Hömer vom Mitfahr-Verband treffe. Der Verband schätzt, dass es bereits zwischen 3.000 und 4.000 Mitfahrbänke in Deutschland gibt. Allerdings sehen die überall anders aus. Der Verband setzt sich unter anderem für ein einheitliches Schild mit einem grünen "M" ein. Damit sollen die Bänke besser erkennbar werden – ähnlich wie Haltestellen, die sich überregional leicht über das gelb-grüne Schild mit dem "H" identifizieren lassen.
Extra für mich hat Hömer eine Lösung für alle Strecken dabei, auf denen ich mal keine Bank finde. Ein Schild mit der Aufschrift "Mitfahr-Haltepunkt", das ich an eine ausziehbare Teleskop-Stange anbringen kann. Zusammen mit einem Camping-Stuhl und einem Lichtkoffer ergibt das eine mobile Mitfahrbank. Tags darauf werde ich sie gleich testen.
Warten auf Peugeot in Markt Bibart
Weil ich im Schneeregen von Donauwörth auch nach über einer Stunde nicht vom Fleck komme, fahre ich mit dem Zug nach Mittelfranken weiter. Genauer gesagt nach Markt Bibart. Dort gibt es bereits seit 2017 mehrere "Mitfahrerbänkla".
Die Mitfahrbank an der Durchfahrtsstraße steht gut versteckt hinter einer Baustelle. Es riecht nach einer mobilen Toilettenanlage. Auf der Karte habe ich mir Altmannshausen als nächstes Ziel ausgemalt. Die Schilder der Mitfahrbank in Markt Bibart sind so ausgerichtet, dass man sie aus einem fahrenden Auto heraus nur mit einer Kopfverrenkung lesen kann. Ich warte – 45 Minuten lang. Mir fällt Einsteins Definition des Wahnsinns ein: "Immer wieder das Gleiche tun und andere Ergebnisse erwarten."
Mobile Mitfahrbank an der B8
Dann kommt Peter. Die Bank hat er nicht gesehen – aber mich! Peter ist als Jugendlicher viel getrampt, erzählt er. Einmal habe eine Frau angehalten, die ihn zunächst nur trocken fragte: "Haben Sie eine Waffe?" Als er dies verneinte, nahm sie ihn mit. "Und die hat mich 15 Kilometer mitgenommen und hat die ganze Zeit gebabbelt", sagt er und lacht.
Bilanz nach drei Tagen: 331 Minuten Wartezeit
In Altmannshausen packe ich mein Schild "Mitfahr-Haltepunkt" und den Camping-Stuhl aus. Ich will weiter nach Unterfranken. Weil der Landkreis Würzburg den genauen Standort der Mitfahrbänke in eine interaktiven Karte eingepflegt hat, weiß ich dort, wo ich hinmuss. Allerdings teilte mir das Landratsamt mit, dass einige Bänke zum Schutz vor der Witterung in den Wintermonaten abgebaut und untergestellt werden.
So weit kommt es dann aber gar nicht: Mein letzter Glücksfall auf dieser Reise sind Vroni und Helmut. Die beiden fahren tatsächlich von Altmannshausen direkt in meine Heimatstadt Würzburg – Geschenke einkaufen. Das Schild mit dem "Mitfahrhaltepunkt" haben sie erst erkannt, als sie schon zum Stehen kamen. "Vor allem haben Sie ja noch gewunken, als wenn Sie schon erfroren wären", sagt Helmut. Die beiden bringen mich zum BR-Studio am Würzburger Hauptbahnhof.
Meine Bilanz: 506 Kilometer auf der Straße mit insgesamt 21 Mitfahrerinnen und Mitfahrern in 15 verschiedenen Autos. Die Wartezeit betrug 331 Minuten.
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