Es ist kalt am ersten Sonntag im November. Trotzdem sprayen sie zehn Stunden lang an ihrem Graffiti: Die Jugendlichen und Mitarbeiter des Fanprojekts Ingolstadt. "Boycott Qatar" steht nun in großen roten Buchstaben auf der gesamten Wand der Graffiti-Unterführung im Ingolstädter Stadtteil Unsernherrn.
Boykott-Sticker und Banner im Stadion
Die Graffiti-Aktion ist nicht der erste WM-Protest des Fanprojekts: Vor dem Stadion des FC Ingolstadt haben sie bereits Boykott-Aufkleber verteilt, drinnen eine Blockfahne mit dem entsprechenden Aufruf aufgehängt, erzählt Mitarbeiter Fabian Liu. Vor etlichen Jahren hätte er sich nicht vorstellen können, die WM zu boykottieren: Nach einem Deutschland-Sieg fuhren seine Bekannten und er damals mit einem LKW - behängt mit Deutschlandfahnen - durch die Stadt. Doch diese Stimmung kommt jetzt nicht auf, meint nicht nur Liu.
Jugendeinrichtungen nutzen WM für Aufklärung
Viele Fußballfans sind unzufrieden mit der diesjährigen WM in Katar: Dem bundesweiten Bündnis #BoycottCatar2022 sind etwa Fanvereinigungen des FC Augsburg, Bayern oder Nürnberg beigetreten. Sämtliche sozialpädagogische Fanprojekte - in Deutschland gibt es 71 - wollen die WM boykottieren, meint der Leiter der Koordinationsstelle, Michael Gabriel: Da diese auch einen politischen Bildungsauftrag hätten, biete sich die WM in Katar an, um etwa über Menschenrechte, Diskriminierung und Nachhaltigkeit zu sprechen.
Statt WM-Eröffnungsspiel: Diskussion, Klassiker, Frauenfußball
Das Fanprojekt Ingolstadt will während des WM-Eröffnungsspiels am Sonntag mit den Jugendlichen über die Lage in Katar diskutieren. Das Augsburger Fanprojekt setzt auf gemeinsames Public Viewing, allerdings mit einem FCA-Klassiker: dem Aufstiegsspiel gegen den FSV Frankfurt aus dem Jahr 2011. Das Fanprojekt Nürnberg will am Sonntag zusammen mit der Nordkurve die Club-Frauen beim Pokalspiel im Stadion unterstützen.
- Zum Artikel: "Franken vs. Katar-WM: Boykott-Aufruf und Protest-Bier"
"Muss auch von den Jugendlichen kommen"
Auch nach der WM-Eröffnung planen die Fanprojekte weiterhin ein Alternativprogramm – mit Pubquiz, Filmeabenden oder Vorträgen. In Ingolstadt erstellen die Streetworker ihr genaues Boykott-Programm derzeit noch gemeinsam mit den Jugendlichen. Im Gespräch sind ein Fifa-Turnier oder Fahnen-Malen an einer extra dafür installierten Wand in den Räumen des Fanprojekts. "Das muss auch von den Jugendlichen kommen", meint Mitarbeiter Florian Liu.
So sehen Jugendliche den WM-Boykott
Die Jugendlichen Samuel und Karl kommen regelmäßig in den offenen Treff des Fanprojekts. Für sie kommt der Boykott jetzt etwas zu spät: "Es wäre sinnvoller gewesen, wenn zum Beispiel Nationen wie Deutschland und Frankreich zusammen oder auch alleine gesagt hätten, sie treten erst gar nicht an. Jetzt zu sagen, man boykottiert das Ganze im Einzelnen, ist meines Erachtens nicht mehr so sinnvoll", meint Samuel.
Schwieriger, je weiter Nationalelf kommt
Karl ist sich sicher, dass er zumindest die Deutschlandspiele anschauen wird. Selbst Simon, der seinen Bundesfreiwilligendienst beim Ingolstädter Fanprojekt macht und den Boykott mit organisiert, ist sich nicht sicher, wie lang der Boykott machbar ist: "Wenn es dann ins Achtel- oder Viertelfinale oder noch weiter geht - auch wenn ich weiß, dass es vielleicht nicht das Richtige ist - aber es ist halt trotzdem Fußball und wenn die in einer WM so weit kommen, werde ich es wahrscheinlich trotzdem anschauen."
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