Die Bayerische Staatsregierung ist nicht bereit, Dokumente zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie offenzulegen. Es sei "klar, dass die Staatsregierung für eine weitere Offenlegung von Dokumenten keinen Anlass sieht", heißt es in einer Antwort des bayerischen Gesundheitsministeriums auf eine Anfrage der SPD-Fraktion im Landtag.
SPD-Fraktionschef Florian von Brunn hatte Kabinett, Gesundheitsministerium und das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit gebeten, ihre Akten zur Corona-Pandemie zu veröffentlichen. "Ich finde es sehr wichtig, dass wir die Corona-Zeit und die Maßnahmen von damals aufarbeiten", sagte von Brunn.
SPD fordert Kommission: "Da müssen wir doch drüber reden!"
Insbesondere Kita- und Schulschließungen hätten schließlich die Familien und vor allem die Kinder sehr stark belastet. Viele Kinder und Jugendliche hätten durch die langen Schulschließungen psychische Probleme davongetragen. "Da müssen wir doch drüber reden, damit wir auch fürs nächste Mal wissen: Welche Fehler sind gemacht worden? Was kann man besser machen? Wie kann man das Kindeswohl mehr beachten?" Deswegen sei es wichtig, dass die Akten offengelegt würden.
Der SPD-Fraktionschef schlug am Sonntag zur politischen Aufarbeitung eine Kommission vor – bestehend aus Wissenschaftlern und Politikern, ergänzt durch einen Bürgerrat. Nur durch Transparenz könne man gesellschaftliche Gräben überwinden. "Dass die Regierung Söder sich jetzt weigert, die Akten zu öffnen und alle Maßnahmen immer noch für richtig erklärt, ist da unverständlich", teilte von Brunn mit.
Grüne wollen Corona-Bürgerrat unabhängig von der Politik
Die Landtags-Grünen fordern die Staatsregierung nun auf, einen Corona-Bürgerrat einzurichten, deren Mitglieder nach einer gewichteten Zufallsauswahl bestimmt würden. Dieser Rat habe die Aufgabe, "die Folgen der Pandemie und der Infektionsschutzmaßnahmen in Bayern zu untersuchen, zu bewerten und daraus Empfehlungen für die Vorbereitung auf zukünftige gesundheitliche Notstände abzuleiten", heißt es in einem Antrag für den Gesundheitsausschuss des Landtags.
Zwar hätten die Grünen die Corona-Maßnahmen der Staatsregierung "zumindest grundsätzlich immer mitgetragen", doch ihre Forderungen nach Evaluation und Transparenz seien von der Söder-Regierung abgelehnt worden. "Deshalb wollen wir zumindest jetzt eine echte gesellschaftliche Aufarbeitung – und zwar durch Bürgerinnen und Bürger selbst. Unabhängig von der Politik und mit ausreichend Zeit," sagt Toni Schuberl, Fraktionssprecher für Justiz.
AfD fordert politische Aufarbeitung
Die AfD-Landtagsfraktion reklamiert die Rolle des Corona-Aufklärers für sich. Sie hatte bereits im Oktober 2020 die "Offenlegung der Entscheidungsgrundlage für die Durchführung der Coronamaßnahmen in Bayern" gefordert, da sie die Begründungen der Staatsregierung nicht akzeptieren wollte. Maßnahmen wie Ausgangssperren hatte die AfD abgelehnt. "Eine politische und womöglich auch juristische Aufarbeitung dieses Staatsversagens ist unumgänglich", betonte die Fraktionsvorsitzende Katrin Ebner-Steiner gegenüber BR24. Die Regierung müsse alle Akten auf den Tisch legen.
Söder-Regierung sieht keinen Grund für Aufarbeitung
Aus Sicht des Gesundheitsministeriums braucht es jedoch keine nachträgliche, politische Aufarbeitung mehr – auch nicht zum zeitweisen Lockdown an bayerischen Schulen. "In der Corona-Pandemie stand der Schutz von Leib und Leben an oberster Stelle", schrieb das Ministerium. "Daher waren aus damaliger Sicht auch die Kita- und Schulschließungen bzw. der Wechselunterricht an den Schulen angemessen und verhältnismäßig."
Das Ministerium verwies auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Das habe die Rechtmäßigkeit solcher Anordnungen bestätigt. Es sei zwar unbestritten, dass die Corona-Maßnahmen der Bevölkerung viel abverlangt hätten. "Die Corona-Pandemie war aber eine bis zu diesem Zeitpunkt nie dagewesene Herausforderung", betonte ein Sprecher des Gesundheitsministeriums. "Rückblickende Schuldzuweisungen verkennen die damalige Situation völlig." Bayern habe bereits aus den Erfahrungen der Vergangenheit gelernt und gehandelt, um sich für künftige Pandemien zu wappnen. Klar sei dabei auch: "Bei Infektionsgeschehen ist verstärkt auf jedwede Belastungen für Kinder zu achten – etwa wenn es um Kita- und Schulschließungen geht."
Holetschek: Heute gibt es "anderes Wissen, andere Studienlage"
Auf Anfrage von BR24 verwies der frühere bayerische Gesundheitsminister und jetzige CSU-Fraktionschef Klaus Holetschek schon Ende März dieses Jahres darauf, dass "wir natürlich jetzt ein anderes Wissen haben". Es gebe eine andere Studienlage. Deswegen würde die Politik bei Kindern und Jugendlichen jetzt wohl auch anders handeln als damals. Zugleich betonte er aber, dass alle Entscheidungen unter der Prämisse gestanden hätten, Menschenleben zu schützen und zu retten.
Natürlich müssten aus der Corona-Zeit Lehren gezogen werden, sagte der CSU-Politiker. Das geschehe in Bayern längst. Es sei beispielsweise ein Pandemie-Zentrallager entstanden und die Digitalisierung der Gesundheitsämter sei vorangetrieben worden.
Florian Herrmann: Aufarbeitung Sache der Wissenschaft
Auch Staatskanzleichef Florian Herrmann (CSU) lehnt eine politische Aufarbeitung der Pandemie zum jetzigen Zeitpunkt ab. Er sagte Anfang April bei einer Debatte im Landtag: Viele, die jetzt eine politische Aufarbeitung forderten, hätten ihr Urteil schon längst gefällt. Herrmann sieht bei der Aufarbeitung der einstigen Corona-Maßnahmen nicht die Politik, sondern die Wissenschaft am Zug. Nur ohne politische Instrumentalisierung könne man für die Zukunft lernen – deshalb sei es vor allem Sache der Wissenschaft, eine Pandemie aufzuarbeiten.
Einen Corona-Bürgerrat zur politisch unabhängigen Evaluation der damaligen Maßnahmen lehnt das Gesundheitsministerium ab: Die Verfassung des Freistaates sehe so einen Rat gar nicht vor, sagte ein Ministeriumssprecher. Außerdem erscheine ein "nach dem Zufallsprinzip zusammengesetzter Bürgerrat (...) für die Aufarbeitung der äußerst komplexen Maßnahmen in der Corona-Pandemie ungeeignet". Die Grünen nennen als Grundlage für den von ihnen geforderten Rat in Bayern "die durch den Bundestag initiierten Bürgerräte".
Von Brunn: Lange Schulschließungen als Fehler eingestehen
Der SPD-Fraktionsvorsitzende von Brunn betonte, dass er davon ausgehe, dass Entscheidungen in der Pandemie definitiv nicht leichtfertig getroffen worden seien: "Klar ist: Niemand von den damaligen Entscheidungsträgern wollte der Bevölkerung schaden, sondern die Menschen sollten geschützt werden."
Er ärgert sich aber über die Antwort des Gesundheitsministeriums auf seine Anfrage. "Jetzt zu sagen, dass die Schließungen in dieser Form völlig richtig waren, halte ich für nicht gut." Von Brunn verwies auf die Bundesregierung in Berlin: "Der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hält die langen Schulschließungen im Nachhinein für einen Fehler." Auch dieser fordere eine Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen, um daraus zu lernen.
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