Katharina erinnert sich noch an den Tag, als ihr erwachsener Sohn vor ihr zusammenbrach. "Er hat gesagt: Mama, wenn du wüsstest, was passiert ist! Dieses Schwein, dieses Schwein! Ich war dran, wie so viele andere." Mit 15 sei er mehrfach vergewaltigt worden – das wirft der Sohn einem ehemaligen Frater des Maristen-Ordens vor, der dort Erzieher und später Internatsleiter war.
Katharinas Sohn konnte sich nicht mehr an die Erlebnisse erinnern, erzählt die Mutter, die eigentlich anders heißt. Er habe seine Erinnerungen lange verdrängt. Dass sie vor einigen Jahren zurückkamen, erklärt im Nachhinein vieles, so Katharina. Angefangen bei der psychischen Erkrankung ihres Sohnes, die vor 20 Jahren plötzlich auftrat.
"Seine Seele ist kaputt"
"Ich bin traurig, weil ihm sehr viele Chancen genommen wurden", sagt Katharina. "Seine ganze Seele ist kaputt. Sein schulischer Werdegang war sehr schwierig. Später hat er immer wieder seine Arbeitsstellen verloren, weil er krank war, mit Depressionen."
In der Vergangenheit wurde der ehemalige Maristen-Frater bereits wegen sexuellem Missbrauchs verurteilt – auf Bewährung. Vom Vorwurf der Vergewaltigung wurde er aber freigesprochen – aus Mangel an Beweisen. Seit September läuft der Berufungsprozess, der sich über Monate hinzieht. Das kostet den mutmaßlichen Betroffenen und seine Familie viel Kraft.
Hilfe bekommen sie von einem Verein, der sich in diesem Jahr gegründet hat: "Wir sind Viele!" [externer Link]. Rund 70 Mitglieder und Unterstützer, darunter Betroffene und ihre Angehörigen, haben sich bereits angeschlossen.
Verein will Gerechtigkeit für Betroffene
Für Andreas Ernstberger war ein Grund für die Vereinsgründung das Versagen der Institutionen. "Eigentlich würde ich davon ausgehen, dass bei sowas eine große Ermittlung stattfindet, eine Kommission eingesetzt wird und der Missbrauch lückenlos aufgeklärt wird, die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden und es Entschädigungen gibt."
Weil das alles bisher nicht geschehen ist, hat er zusammen mit Betroffenen und ihren Angehörigen beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Christian Fröhler, mit dem er den Verein leitet, ist selbst von sexuellen Übergriffen des ehemaligen Fraters betroffen, berichtet er. "Diese Wehrlosigkeit, dieses Ausgeliefertsein, das Alleinsein – das macht mich unglaublich wütend", sagt Fröhler.
Orden hat zu lange geschwiegen
Der Orden der Maristen räumt auf BR-Anfrage Fehler im Umgang mit den Missbrauchsfällen ein. Etwa, dass nach der Versetzung des Fraters und seiner Verurteilung im Jahr 2008 zu lange geschwiegen wurde. In einer schriftlichen Stellungnahme heißt es: "Erst 2010, nach der Bekanntmachung der Umstände durch die Presse, wurden die Mitarbeiter im Internat, die Brüder der Kommunität und die Schulleitung und das Kollegium des Maristenkollegs über die Hintergründe und die Verurteilung informiert. Das war offensichtlich viel zu spät und war sicherlich ein großer Fehler der damaligen Ordensleitung."
2022 wurde der Täter aus dem Orden entlassen. Unter anderem, weil er "im Laufe der Jahre begonnen hatte, vermehrt seine Taten zu relativieren, zu minimieren oder sich selbst als Opfer zu sehen und kaum Verständnis gegenüber dem Leid der Betroffenen aufbrachte". Weil er als Frater auf keine finanziellen Rücklagen zurückgreifen kann, stellt ihm der Orden heute eine mietfreie Wohnung zur Verfügung. Der Verein "Wir sind Viele!" kritisiert, dass sich nicht in gleichem Maße um Betroffene gekümmert wird.
Gespräche helfen
Früher habe er nicht gewusst, wohin mit seiner Wut, sagt Christian Fröhler, inzwischen kann er sie konstruktiv nutzen – im Verein. "Ich bin so froh, die anderen gefunden zu haben, die das mit mir vorantreiben." Auch Katharina und ihr Sohn schätzen den Verein und die regelmäßigen Treffen – per Video-Call oder persönlich. "Es hilft auch den anderen, darüber zu sprechen, einfach ein Forum zu haben, wo man frei reden kann, ohne Angst, was Falsches gesagt zu haben."
Betroffene, die dazu bereit sind, will der Verein auch vor Gericht oder auf dem Weg zu möglichen Anerkennungsleistungen unterstützen. Derzeit bekommt der Verein wöchentlich neue Anfragen.
Wut und Wandel: Wie kann Ärger konstruktiv genutzt werden? Darum geht es in STATIONEN vom 13. November 2024. Hier gehts zur Sendung!
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!