Eigentlich, sagt Jana, die eigentlich anders heißt, habe sie anfangs nicht gemerkt, dass sie anders sei als die anderen Kinder in München. Doch als sie älter wird und in die Mittelschule kommt, beginnt sie die Unterschiede zu spüren. "Die anderen haben Nike-Schuhe und Nike-Pullover und du hast Klamotten von Deichmann", erzählt sie. Und wenn die anderen sich dann abfällig gegenüber Deichmann äußern, sagt Jana, sei das schon verletzend.
"Ich hatte kein Geld und wollte meine Mutter nicht fragen"
Die 16-Jährige ist im Kongo geboren. Bis zu ihrem neunten Lebensjahr hat sie mit ihrer Mutter und ihren beiden Geschwistern in einer Asylunterkunft gewohnt. Jana würde nicht behaupten, dass sie arm sei, aber wirklich gut ging es ihrer Familie finanziell nie. Lange hat sie zum Beispiel als Schülerin als Barista gearbeitet, um ihrer Familie finanziell zu helfen.
Besonders klar wurden die Unterschiede zu ihren Klassenkameraden in der siebten Klasse, als Themen wie "Shoppen" und "Essengehen" wichtig wurden, erzählt Jana: "Ich hatte kein Geld und ich wollte meine Mutter nicht nach Geld fragen. Sie ist alleinerziehend, hat drei Kinder. Da ist es so: Man will einfach seine Mutter nicht fragen."
Armutsforscher kritisiert gesellschaftliche Entwicklung
Das, was Jana beschreibt, nennt der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge "relative Armut". Das heißt, das Einkommen von Janas Familie liegt weit unter dem mittleren Einkommen. Und diese Probleme, erklärt Butterwegge, verschärfen sich. "Armut dringt zunehmend in die Mitte der Gesellschaft vor", sagt der Wissenschaftler.
14,1 Millionen Menschen seien nach Definition der europäischen Union in Deutschland mittlerweile armutsgefährdet. Geht man vom durchschnittlichen Medianeinkommen 2023 aus, das sich auf 3.654 Euro beläuft, sagt die EU, dass armutsgefährdet ist, wer 60 Prozent oder weniger davon verdient. Das ergibt für Deutschland also ein monatliches Einkommen von 2.200 Euro oder weniger.
Armut bedeutet soziale Ausgrenzung
Armutsgefährdet sind laut Christoph Butterwegge vor allem Erwerbslose, Alleinerziehende sowie Kinder, Jugendliche und ältere Menschen. "Was man sagen kann, ist, dass Armut immer bedeutet, sozial ausgegrenzt zu werden", sagt der Armutsforscher. Und Armutsbetroffene würden darüber hinaus häufig stigmatisiert und kriminalisiert. Deutlich häufiger als wohlhabende Menschen, die in der Gesellschaft mehr Anerkennung erfahren würden, sagt Butterwegge.
Gegen die soziale Ausgrenzung von Armutsbetroffenen kämpf die gemeinnützige GmbH "Dein München". Vor allem jungen Menschen will die Organisation helfen und soziale Teilhabe ermöglichen, erklärt Rebecca Gutwald, die bei "Dein München" arbeitet. Gutwald erzählt, dass viele armutsbetroffene Jugendliche mit 14 oder 15 Jahren noch nicht einmal aus ihren Vierteln herausgekommen seien. "Das fängt schon damit an, dass wir mit ihnen U-Bahn fahren zu einem neuen Ort und man merkt, dass das einfach unbekanntes Terrain ist", so Gutwald weiter.
Wer arm ist, dem fehlt ein Netzwerk
"Dein München" geht an Mittelschulen und stellt sich jungen Menschen dort vor. Die Idee ist, dass sie bei einer Teilnahme lernen, wo ihre Interessen liegen und mit anderen Unternehmen und Lebenswelten in Kontakt kommen können. Die Kinder und Jugendlichen lernen so zum Beispiel unterschiedliche Sportvereine kennen und können sich ein Netzwerk aufbauen. Die Kosten dafür übernimmt "Dein München".
Auch die 16-jährige Jana ist seit zwei Jahren dabei. "Als ich damit angefangen habe, hat es wirklich sehr viel Spaß gemacht", erzählt sie. Sie habe viel über sich selbst gelernt und wie sie mit anderen Menschen umgehen kann.
Wie Jugendliche über Armut diskutieren
Jana ist jetzt auf der FOS, will danach studieren und Kriminologin werden. Bei "Dein München" hilft sie mittlerweile auch anderen Jugendlichen. Heute trifft sie im Büro in München ihre Freundinnen Maria, Anissa und Melanie. Und sie diskutieren auch politische Probleme. "Reiche werden reicher und Arme werden ärmer. Das trennt die Gesellschaft unglaublich", sagt Maria, die 2022 aus der Ukraine geflüchtet ist und jetzt in Salzburg studiert.
Anissa erzählt von den gestiegenen Lebensmittelpreisen, die sie täglich spürt. Zum Geld, dass sie jeden Monat für Mittagessen in der Schule ausgibt, sagt sie: "Es ist echt teuer. Früher waren es 40 Euro im Monat, jetzt sind es 70 Euro." Auch die Spannungen zwischen Eigenverantwortung und strukturellen Problemen von Armut diskutieren die Freundinnen. Melanie findet zum Beispiel, dass eigentlich überall Jobs zu finden seien. "Wenn jemand krank ist, das verstehe ich", erklärt sie. Aber an sich könne niemand einfach behaupten, dass er nicht arbeiten kann. Ihr Fazit: "Jeder kann arbeiten!"
Diese Regionen sind besonders gefährdet
Aber in manchen Regionen Bayerns reicht arbeiten allein nicht mehr aus, um Armut zu entkommen. Das zeigt auch der Armutsbericht Bayern der Rosa-Luxemburg-Stiftung aus diesem Jahr. Besonders dort, wo es teuer ist, sind Menschen von Armut bedroht. Also in Städten wie München, Augsburg oder Nürnberg. Und auch dort, wo Arbeit schlechter bezahlt wird, zum Beispiel in Oberfranken, treffen Menschen die steigenden Kosten für Energie, Lebensmittel und Wohnraum hart.
Stiftungs-Vorsitzender und Münchner-Linken-Stadtrat Stefan Jagel erklärt, dass die Löhne zu niedrig seien. "Deswegen ist die Forderung nach einer Erhöhung des Mindestlohns total richtig", so Jagel weiter. In München beispielsweise würden bei vielen mehr als 40 Prozent des Einkommens für Miete draufgehen. Allein das sei mittlerweile ein riesiges Armutsrisiko.
Für Jana und ihre Freundinnen wird es also in Zukunft schwerer – besonders dann, wenn es mit dem Traum, als Kriminologin zu arbeiten, am Ende nicht klappen sollte. Denn auch das zeigt der Armutsbericht: Wer ein Leben lang im Niedriglohnsektor beschäftigt ist, rutscht fast zwangsläufig in die Altersarmut.
"Abstiegsangst und Zukunftssorgen – Was hilft gegen die Krise?" Darüber diskutiert die Münchner Runde am Mittwoch, den 06.12. um 20:15 Uhr im BR Fernsehen und live bei BR24. Die Gäste: Alexander Dobrindt, CSU-Landesgruppenchef im Bundestag, die Landesgruppensprecherin der bayerischen Grünen im Bundestag, Jamila Schäfer, Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland, sowie der Hauptgeschäftsführer der IHK für München und Oberbayern, Dr. Manfred Gößl.
Dieser Artikel ist erstmals am 6.12.2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
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