Das Durchschnittsalter von Holocaust-Überlebenden ist 85,5 Jahre, jeden Tag sterben ungefähr 40 von ihnen - alleine in Israel. Diese Zäsur wird die Erinnerungskultur verändern. Auch die Überlebenden des ehemaligen KZ-Außenlagers Mühldorf werden weniger. Dort befand sich eines der größten von 140 Außenlagern des ehemaligen KZ Dachau. Damit die Geschichten der Menschen nicht in Vergessenheit geraten, klärt Susanne Siegert dazu über Social Media auf. Ihr Projekt ist in Bayern einzigartig und zeigt einen neuen Weg, wie Gedenkarbeit aussehen kann.
Nahbare digitale Erinnerungskultur
So vergleicht die 31-Jährige in einem ihrer Videos einen Tagebuch-Eintrag von sich selbst mit einem Tagebuch-Eintrag des KZ-Häftlings Stephen Nasser - als beide 14 Jahre alt waren. Susanne Siegert berichtet demnach 2006 in ihrem Tagebuch von einem Tanzkurs, Hausaufgaben, Billy Talent-Postern.
Die Unterschiede zur grausamen Lebensrealität von Stephen Nasser könnten größer nicht sein. Er verliert seinen großen Bruder Andras, an den er seine Tagebuch-Zeilen richtet: "Ich werde aus diesem Höllenloch lebend herauskommen, ich werde es zur Erinnerung an dich tun." Nassers großer Bruder stirbt nur wenige Monate vor Kriegsende in seinen Armen. Der ungarische Jude wird als 13-Jähriger aus Budapest nach Auschwitz deportiert und kommt anschließend in das KZ-Außenlager Mühldorfer Hart. Sein Tagebuch verfasst er auf den Innenseiten eines leeren Betonsacks. Stephen Nasser ist einer der letzten Überlebenden des KZ-Außenlagers Mühldorfer Hart.
Spuren des Nationalsozialismus vor der eigenen Haustüre
Susanne Siegert ist in der Nähe des ehemaligen Außenlagers aufgewachsen, hat aber erst nach ihrer Schulzeit erfahren, wie nah der Nationalsozialismus dort war. "Wie kann das eigentlich sein, dass wir im Geschichtsunterricht nach Dachau gefahren sind, aber nie über diesen Ort hier gesprochen haben?", meint Siegert.
Für mehr Aufklärung sorgt seit 2015 eine Dauerausstellung im Mühldorfer Geschichtszentrum. Die Geschichtsstudentin Beverly Fietzek forscht zum Thema NS-Geschichte in Mühldorf und gibt Führungen. Obwohl Susanne Siegert unabhängig arbeitet, stehen sie in engem Kontakt. Gemeinsam gestalten sie auch Führungen auf dem Areal des ehemaligen KZ im Mühldorfer Hart. "Ich finde es super, dass sie aufzeigt, wie zugänglich die Informationsbeschaffung auch für den Laien sein kann", sagt Fietzek. "Dass sie immer auf die Geburtstage der Überlebenden eingegangen ist und wie sie die Geschichten erzählt hat, das ist so nahbar."
Die Geschichten der Menschen sollen nicht vergessen werden
Auf TikTok und Instagram folgen ihr insgesamt über 117.000 Menschen, auch einen Podcast zum Thema produziert sie. Für die Recherche nutzt die 31-Jährige frei zugängliche Quellen, meist aus dem Internet. In manchen Monaten erreicht sie allein auf Instagram bis zu 600.000 Userinnen und User. Einige von ihnen habe sie auch inspiriert, über ihre eigenen Familiengeschichten und Heimatorte zu recherchieren. "So viele Menschen werden diesen Ort hier nie besuchen", so Siegert, "aber so kann ich wenigstens diesen Ort und die Geschichten nach außen tragen."
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