Rettungswagen des Bayerischen Roten Kreuzes
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In einem Notfall mit Reanimation zählt jede Sekunde. Es gibt Standards, mit denen die Rettung verbessert werden kann.

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Notfälle in Bayern: Mehr Menschen könnten gerettet werden

In einem Notfall mit Wiederbelebung zählt jede Sekunde. Datenauswertungen, Erst-Helfer-Apps und standardisierte Notrufabfragen können die Rettung verbessern. Eine Datenrecherche zeigt: In vielen Regionen Bayerns wird das nicht umgesetzt.

Über dieses Thema berichtet: Bayern 2 Die Welt am Morgen am .

Acht Minuten. Das ist das Maximum an Zeit, das vergehen sollte, zwischen dem Absetzen eines Notrufs im Fall eines Herz-Kreislauf-Stillstandes und dem Eintreffen der professionellen Rettungskräfte. In Deutschland sollte das in mindestens 80 Prozent der Reanimationsnotfälle erreicht werden – das ist zumindest die Meinung medizinischer Fachgesellschaften, die das Ziel 2016 in einem Eckpunktepapier festgelegt haben.

Reanimation überleben – eine Frage des Standorts?

Eine exklusive Datenrecherche des SWR Data Labs zeigt nun: Dieses Ziel wird nur in wenigen Rettungsdienstbereichen in Deutschland erreicht. Oft sind die im Gesetz festgelegten Zielmarken – Notfall-Rettung ist Ländersache – deutlich höher, als die von den Experten und Expertinnen vorgegebenen acht Minuten in 80 Prozent der Fälle. Ob und wie man einen Reanimationsfall überlebt, hängt also auch davon ab, wo man sich befindet.

Für Bayern kann aber nicht einmal gesagt werden, in welchen Regionen die Rettung nach den Vorgaben der Fachleute funktioniert – die zuständigen Behörden haben gegenüber dem Rechercheteam keine Angaben dazu gemacht:

Auf BR24-Anfrage schreibt das bayerische Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration, dass valide Daten zur Eintreffzeit von Rettungsmitteln in Notfällen mit plötzlichem Herz-Kreislauf-Stillstand schlicht nicht vorlägen.

Keine digitale Dokumentation der Notarzteinsätze

Bernhard Zwißler, Mitglied im Fachausschuss des Instituts für Notfallmedizin und Medizinmanagement an der LMU München, nennt einen Hauptgrund für das Fehlen der Daten: "Ein wesentlicher Hemmschuh ist, dass die digitale Dokumentation der Notarzteinsätze seit über 10 Jahren auf sich warten lässt."

Sowohl der Fachmann als auch das Ministerium weisen darauf hin, dass die Datenlage sich mit der Einführung des Bayerischen Notfallregisters verbessern soll. Diese ist bereits gesetzlich verankert und soll demnächst beginnen. In dem Register sollen unter anderem Daten des Rettungsdienstes mit denen der Krankenhäuser zusammengeführt werden. Das Ziel: Die gesamte Rettungskette, vom Notruf bis zur Klinik, auswertbar machen.

Das Innenministerium schreibt außerdem, dass die gesetzliche Plangröße für das Eintreffen des "qualifizierten Rettungsmittels" in Bayern 12 Minuten (nach Ausrücken) beträgt. Diese Größe soll in mindestens 80 Prozent der Notfälle erreicht werden. Im bayerischen Rettungsdienstbericht für das Jahr 2023 (externer Link) wurde festgestellt, dass schon dieses Ziel in immer mehr Versorgungsbereichen nicht erreicht wird. Wichtig allerdings: Die gesetzlich festgelegte Zielquote gilt für alle Arten von Rettungseinsätzen – für Reanimationsfälle gibt es keine gesonderte Auswertung.

Telefon-Reanimation und Qualitätsmanagement funktionieren im Freistaat

Bei einem Herz-Reislauf-Stillstand zählt jede Minute. Wenn der Betroffene innerhalb von vier Minuten wiederbelebt wird, ist die Chance deutlich höher, dass er ohne bleibende Schäden überlebt. Deshalb spielen in diesen Notfällen weitere Faktoren eine wichtige Rolle: Eine Anleitung zur Reanimation über das Telefon zum Beispiel oder das schnelle Dazuholen von geschulten Ersthilfekräften.

In diesen Bereichen steht der bayerische Rettungsdienst nach den Rechercheergebnissen des SWR gemischt da: Auf der einen Seite dokumentieren alle Rettungsdienstbereiche ihre Telefonreanimationen, in den meisten gibt es auch ein Qualitätsmanagement dafür.

Jan-Thorsten Gräsner, Direktor des Instituts für Rettungs- und Notfallmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, lobt den Freistaat im Gespräch mit dem SWR: "Wenn man Bayern anschaut und die Angaben zur Telefon-Reanimation, so sieht man das auch ein sehr großes Bundesland flächendeckend Telefon-Reanimation einführen kann."

In vielen Regionen fehlt die Vernetzung von Ersthelfern

Auf der anderen Seite haben 18 von 26 Bereichen keine flächendeckende First-Responder-App. Über diese lassen sich geschulte Erst-Helfer schnell benachrichtigen und zum Ort des Notfalls lotsen.

Gerade in einem Flächenland wie Bayern würde es laut Jan-Thorsten Gräsner aber Sinn ergeben, auch wirklich Ersthelfende an die Einsatzstelle im ländlichen Raum zu bringen. "Gerade wenn der Rettungsdienst länger braucht, sind App-gesteuert alarmierte Ersthelfer eine echte, gute Ergänzung, die zumindest nach der Kartenlage in vielen Fällen nicht genutzt wird", so der Fachmann

Daten sind notwendig, um Schwachstellen zu identifizieren

Nichts ersetzt jedoch das rechtzeitige Eintreffen von professionellen Rettungskräften. Nur sie können etwa Medikamente wie Adrenalin verabreichen oder die kontrollierte Beatmung durch einen Intubationsschlauch durchführen. Umso wichtiger erscheint es, dass in Bayern Daten dazu erhoben und ausgewertet werden, wie schnell die Rettung tatsächlich eintrifft.

Das betont auch Bernhard Graf, Sprecher des Rettungszentrums Regensburg: "Die Bedeutung solcher Zahlen wird klar, wenn wir den Vergleich mit der sogenannten Rettungskette heranziehen – eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Insofern erscheint es gerade beim Herzkreislaufstillstand und bei der präklinischen Reanimation unumgänglich, hier stets das schwächste Glied zu identifizieren. Diese Informationen sind nötig, um dieses Glied dann zu stärken."

Einheitliche standardisierte Notrufabfrage noch in Planungsphase

Das erste wichtige Glied in der Rettungskette: Eine schnelle Reaktion in der Leitstelle, wo ein Notruf zuerst ankommt – sie kann über lebenswichtige Minuten entscheiden. Um den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen dafür die besten Bedingungen zu schaffen und Fehler zu vermeiden, gibt es verschiedene Abfragesysteme. Bei einer strukturierten Notrufabfrage übernimmt das Leitstellenpersonal direkt die Gesprächsführung und leitet den Anrufenden in einer bestimmten (strukturierten) Weise durch den Notruf.

Eine standardisierte Notrufabfrage (SSNA) läuft immer über eine Software – der genau Wortlaut der Fragen ist vorgegeben, das System macht Vorschläge auf Basis der Antworten. Viele Expertinnen und Experten, darunter auch Bernhard Graf, empfehlen die SSNA. Laut dem Fachmann aus Regensburg könnten damit nicht nur Fehler vermieden und zügiger Entscheidungen getroffen werden – der Aufwand wäre auch überschaubar. Es bräuchte lediglich eine Schulung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, sodass keine zusätzlichen Personalkosten entstünden oder zusätzliches Personal, das nicht leicht zu gewinnen sei, benötigt würde. "Ich denke die Einführung dieser standardisierten Notfallabfrage – möglichst einheitlich in allen Rettungsleitstellen –sollte höchste Priorität haben", sagt Graf.

In Deutschland gibt es eine große Zahl von Rettungsdienstbereichen, in denen trotz der Empfehlungen noch keine SSNA angewandt wird. In Bayern wird laut dem Innenministerium zumindest die strukturierte Notrufabfrage bereits flächendeckend angewandt. Eine SSNA ist in den meisten Rettungsdienstbereichen den SWR Recherchen zufolge aber nur "in Planung":

Nach Angaben des Innenministeriums gegenüber BR24 ist die Einführung eines landesweit einheitlichen SSNA-Systems bereits beschlossen. Es soll an die Erneuerung des Einsatzleitsystems gekoppelt werden, die aktuell vorbereitet wird – ein passender Termin werde entsprechend festgelegt.

Bernhard Zwißler von der LMU München betont, dass der Nutzen einer SSNA in Leitstellen mit ohnehin geschultem Personal, wie sie in Bayern flächendeckend vorhanden sind, noch nicht wissenschaftlich belegt ist. Trotzdem begrüßt auch er die geplante Einführung. "Die Etablierung der hierfür nötigen neuen Software wird aber wohl noch etwas Zeit in Anspruch nehmen", so die Einschätzung des Fachmann. Wichtig sei, dass das System in ganz Bayern das gleiche sein müsse, um die Qualität der Rettung flächendeckend zu verbessern.

Hunderte mehr könnten gerettet werden

Eine Hochrechnung des SWR Rechercheteams – basierend auf der geschätzten Gesamtzahl an Reanimationen in Deutschland – offenbart, wie sich Verbesserungen in der bayerischen Notfallversorgung auswirken könnten: Pro Jahr gibt es im Freistaat mindestens 8.680 reanimierte Notfallpatientinnen und -patienten – davon überleben etwa 1.180. Orientiert man sich an den Überlebenschancen in den erfolgreichsten Rettungsdienstbereichen, könnten 410 gerettet werden.

Über die Daten

Im Juni 2023 haben Reporterinnen und Reporter des SWR Data Lab umfassende Daten zum Thema Reanimation von allen Rettungsdienstbereichen in Deutschland angefragt. Fehlende oder nicht interpretierbare Daten wurden mit Informationen der Ärztlichen Leitung Rettungsdienst, zuständigen Ministerien, Krankenkassen, sowie Betreibern von First-Responder-Apps ergänzt. Im Dezember 2023 hat das Rechercheteam die Rettungsdienstbereiche gebeten, ihre Angaben zu validieren. Mitte Juni 2024 wurden sie mit den Ergebnissen konfrontiert und um Stellungnahme gebeten. Entstanden ist eine umfassende, regionale Datengrundlage zum Thema Reanimation. Die Daten beziehen sich auf das Jahr 2022. Teilweise sind die Daten ergänzt um Informationen, die zusätzlich ausgewertet wurden, sowie kleinere Korrekturen nach der finalen Konfrontation.

Im Video: Der Rettungsdienst funktioniert nicht flächendeckend in gleicher Qualität.

Ein Rettungsdienst im Einsatz
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Ein Rettungsdienst im Einsatz

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