Ein Teddybär liegt neben Blumenkränzen und Kerzen auf dem Boden und erinnert an den tödlichen Messerangriff.
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Ein Teddybär liegt neben Blumenkränzen und Kerzen auf dem Boden und erinnert an den tödlichen Messerangriff.

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Verdächtiger von Aschaffenburg: Hat Bayern Abschiebung versäumt?

Verdächtiger von Aschaffenburg: Hat Bayern Abschiebung versäumt?

Bayern und der Bund streiten, ob die Tat von Aschaffenburg hätte verhindert werden können. Laut Bundesinnenministerium hätte Bayern genug Zeit gehabt, den Afghanen abzuschieben. Der Freistaat präzisiert nun seine Angaben.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im BR Fernsehen am .

Die Angaben aus Berlin und München widersprechen sich – und das bei einer zentralen Frage um den mutmaßlichen Täter von Aschaffenburg. Unstrittig ist: Der 28 Jahre alte Mann aus Afghanistan hätte schon seit eineinhalb Jahren gar nicht mehr in Deutschland sein sollen. Da er zunächst in Bulgarien in die EU eingereist war, hätte nach europäischem Recht Bulgarien auch sein Asylverfahren übernehmen müssen.

Die Überstellung nach Bulgarien war bereits angeordnet. Doch es kam nie dazu. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) machte dafür am Mittwoch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) verantwortlich, das Bundesinnenministerium widerspricht nun ganz entschieden und richtet den Finger wiederum auf Bayern.

Wann wurden die bayerischen Behörden informiert?

Der Afghane war Ende 2022 nach Deutschland gekommen, Ende Januar 2023 stellte das BAMF bereits eine "Take-Back-Anfrage" (Wiederaufnahmegesuch) an Bulgarien, wie ein Sprecher des Bundesinnenministeriums in Berlin erläuterte. "Die Zustimmung Bulgariens erfolgte dann am 3. Februar." Mit diesem Tag begann auch die Sechs-Monatsfrist für die Überstellung nach Bulgarien. Der Asylantrag des Mannes wurde am 19. Juni 2023 abgelehnt und eine Abschiebung nach Bulgarien angeordnet.

Ab hier gehen die Darstellungen auseinander. Bayerns Innenminister Herrmann sagte, die Ausländerbehörden des Freistaats seien erst am 26. Juli und damit wenige Tage vor Fristende informiert worden – "aufgrund welcher Fehler und Probleme auch immer", so Herrmann. Wegen der Kürze der Zeit sei eine Ausweisung nicht mehr möglich gewesen.

Hatte Bayern doch sieben Wochen Zeit?

Dagegen betonte Bundesinnenminister Nancy Faeser (SPD) am Donnerstagabend im ZDF, Bayern sei sieben Wochen vor Fristende informiert worden. Ein Sprecher des Bundesministeriums bekräftigte heute: Die Zentrale Ausländerbehörde Unterfranken sei schon "mit einem Schreiben vom 21.06.23 – also sieben Wochen vor Fristablauf – über den Bescheid" in Kenntnis gesetzt worden. Am 26. Juli sei der Behörde noch zusätzlich mitgeteilt worden, dass die Entscheidung rechtskräftig sei.

Rechtsexpertin: "Zeitraum ausreichend" für Überstellung

Die Vorsitzende des Gesetzgebungsausschusses "Ausländer- und Asylrecht" im Deutschen Anwaltverein, Gisela Seidler, erläutert auf BR-Anfrage: "Meiner Einschätzung nach wäre der Zeitraum zwischen dem 21.06.23 und 03.08.23 ausreichend gewesen, um seitens der Zentralen Ausländerbehörde die Überstellung zu organisieren."

Es gebe schließlich genug Linienflüge nach Bulgarien. "Im Zweifelsfall muss man halt auf Polizeibegleitung verzichten, wenn daran anderenfalls die Überstellung scheitern würde." Falls Fluchtgefahr bestand, hätte der Afghane laut Seidler auch in Abschiebungshaft genommen werden können.

Ulrich Becker, Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik, sieht noch viele Fragezeichen und warnt vor Fehlerzuweisungen. "In dem ganz konkreten Fall wissen wir ja gar nicht, wo der Fehler wirklich gelegen hat", sagt der Rechtsprofessor im BR24-Interview. "Wir müssen den Fall wirklich anschauen und sehen: Gab es denn überhaupt Kommunikationsdefizite?" Sollte es keine solchen Defizite gegeben haben, stelle sich die Frage, warum der Mann nicht abgeschoben worden sei. "Auch das wissen wir ja nicht im Moment."

Bayern präzisiert seine Angaben

Auf BR-Anfrage präzisiert nun das bayerische Innenministerium seine Angaben. Ein Sprecher räumt ein, dass die Ausländerbehörde in Unterfranken schon im Juni über den ablehnenden Asylbescheid informiert worden sei, nennt aber einen späteren Termin als Berlin: 29. Juni. Rechtskräftig sei der Bescheid aber erst am 3. Juli geworden. Es sei Aufgabe des BAMF, der Ausländerbehörde mitzuteilen, wenn die Bestandskraft vorliege und die Überführung organisiert werden könne. Diese Mitteilung ging dem Sprecher zufolge aber erst am 27. Juli ein.

Zudem müsse das BAMF der Ausländerbehörde auch die "konkreten Überstellungsmodalitäten" übermitteln – unter anderem das Fristende, Art der Überstellung (Land oder Luft oder beides), mögliche Grenzübergangsstellen. "Diese Informationen sind gänzlich unterblieben."

Rückführungen nach Bulgarien seien wegen geringer Kapazitäten an freien Flugverbindungen sehr schwierig, erläutert der Sprecher weiter. "Pro Woche werden maximal zehn Personen aus allen Mitgliedsstaaten entgegengenommen. Die Vorlaufzeit für die Anmeldung bei den bulgarischen Behörden beträgt neun Werktage." Somit sei eine zeitgerechte Abschiebung vor dem 3. August "schon aufgrund der knappen Vorlaufzeit" nicht mehr umsetzbar gewesen.

Nach gescheiterter Abschiebung: Über Monate passierte nichts

Nachdem die Abschiebung nach Bulgarien gescheitert war, wurde wiederum Deutschland und damit das BAMF für das Asylverfahren zuständig. Lange Zeit passierte wenig. Erst im Juli 2024 wurde der Mann zu einer Anhörung geladen, die am 11. September stattfinden sollte. Der Afghane kam nicht, unentschuldigt. Anfang Dezember 2024 kündigte der Mann überraschend seine Ausreise an, das BAMF stellte daraufhin das Asylverfahren ein.

"Die lange Dauer bis zur Anhörung kann mit der Prioritätensetzung beim BAMF zu tun haben", sagt Gisela Seidler vom Anwaltverein dazu. "Manche Herkunftsländer mit niedrigen Anerkennungsquoten werden beschleunigt bearbeitet." Das binde Personal. "Nach meiner Einschätzung dauern die Verfahren von afghanischen Männern derzeit sehr lang, weil das BAMF auf eine Änderung der Rechtsprechung oder auf eine Verbesserung der Lage in Afghanistan hofft."

Anwältin: Nicht auf Aussage von psychisch Kranken verlassen

Zu einer Ausreise des Mannes kam es nicht. Am Mittwoch ging er mit einem Messer auf eine Kindergartengruppe los, tötete einen Zweijährigen und einen Passanten. Drei Menschen wurden verletzt. Der Tatverdächtige wurde gefasst, mittlerweile ist angeordnet, dass er in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht wird.

Ein mögliches Versäumnis der Behörden könnte laut Seidler darin bestanden haben, dass die Gefährlichkeit des mutmaßlichen Täters nicht erkannt worden sei. "Laut Medienberichten wurde ein Gutachten nicht ausgeführt, weil der Täter erklärt hatte, freiwillig auszureisen", sagt sie. "Auf so eine Aussage darf man sich aber bei einem psychisch Kranken nicht verlassen."

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