Ein grauer Nachmittag Ende Januar im Münchner Stadtteil Giesing. Melanie Bergzoll soll heute einen Vortrag halten über die anstehende Bundestagswahl. Sie wird ihrem teils körperlich, teils kognitiv eingeschränktem Publikum die Wahlzettel erklären und speziell den sehbehinderten Teilnehmern den Umgang mit der Schablone, mit der blinde Menschen selbstständig wählen können.
Bergzoll ist zu Gast in einem Wohnheim der gemeinnützigen Südbayerischen Wohn- und Werkstätten. "Mir ist es ein Anliegen, diese Menschen dazu zu bewegen, zur Wahl zu gehen und Ihnen politische Teilhabe zu ermöglichen", so Bergzoll. Sie ist selbst seit ihrer Geburt auf einen Rollstuhl angewiesen und setzt sich seit Jahren für mehr Inklusion in der Politik ein. Dafür braucht sie viel Ausdauer.
Wahlkampf 2025: "Von Inklusion keine Spur"
Die Wahl könnte für Menschen mit Behinderung wieder einmal herausfordernd sein: Die bayerischen Wahllokale sind vielerorts noch immer nicht barrierefrei. Wie viele genau, weiß man nicht. Konkrete Zahlen hierzu werden nicht erhoben, wie das Bayerische Landesamt für Statistik auf BR-Anfrage mitteilt.
Hinzu kommt, dass der Wahlkampf diesmal so kurz ist. Viele Menschen möchten sich nicht auf die Briefwahl vertrösten lassen, erzählt Referentin Melanie Bergzoll. Denn eine Wahlentscheidung zu treffen, betrachten viele als schwierig. Sie wollen die komplette Zeit bis zum Wahltag nutzen, um sich zu informieren und dann erst ihr Kreuz auf dem Wahlzettel machen.
Jeder zehnte Mensch in Deutschland ist schwerbehindert
Soziale Themen würden im diesjährigen Wahlkampf ohnehin ausgeklammert, kritisiert Jan Gerspach, Leiter des Ressorts Leben mit Behinderung bei dem Sozialverband VdK Bayern. "Sozialstaat betrifft alle Menschen, die in Deutschland leben", sagt Gerspach dem Bayerischen Rundfunk. Es sei enttäuschend, dass dieses Thema in den Debatten so wenig Platz einnimmt. Etwa 10 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind schwerbehindert – in Bayern sind es laut aktuellen Zahlen 8,2 Prozent. Doch noch immer sei die Repräsentation der Betroffenen in den Parlamenten ungenügend, meint Gerspach.
Holger Kiesel möchte das ändern. Der 50-Jährige ist Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung. Und er ist alarmiert: "Vieles, was wir im Bereich der Inklusion für gegeben hingenommen haben, steht aufgrund der aktuellen Debatten rund um Sparmaßnahmen leider wieder unter Druck", so Kiesel. Menschen mit Behinderung politische Teilhabe zu ermöglichen, das sei keine Sonderbehandlung, sondern schlicht und ergreifend "die Einforderung unserer Menschenrechte", betont Kiesel immer wieder.
Dass die Belange von Menschen mit Behinderung in der Politik zu wenig berücksichtigt werden, konstatiert auch Jan Gerspach vom VdK Bayern. Die Folge: Viele Schulen und Bahnhöfe seien noch immer nicht barrierefrei. Wirkliche Selbstbestimmung etwa beim Bereich Wohnen bleibe für viele schwerbehinderte Menschen unerreichbar.
Selbstständig informieren, selbstständig wählen
Holger Kiesel wünscht sich, dass Menschen mit Behinderung mehr Einfluss auf die Politik nehmen können. Er hat deshalb mit Unterstützung der Landeszentrale für politische Bildung Bayern und dem Bayerischen Innenministerium ein leicht verständliches Wahl-Hilfe-Heft zur anstehenden Bundestagswahl produzieren lassen. Es ist kostenlos über die Website des Behindertenbeauftragten (externer Link) abrufbar.
"Für viele Politiker ist Inklusion noch ein Fremdwort"
Das Publikum von Melanie Bergzolls Informationsveranstaltung übt das Wählen noch. Die sehbehinderten Teilnehmer können hier ausprobieren, wie man den ausgeklappten Wahlzettel unter eine spezielle Schablone mit Blindenschrift legt. Eine dazugehörende Audio-CD leitet den Wähler oder die Wählerin an, dass er oder sie selbstständig und ohne fremde Hilfe das Kreuz setzen kann. Die Wahlschablone können die Betroffenen beim Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund anfordern (externer Link).
Nach dem Vortrag von Bergzoll ergreifen viele Teilnehmer die Möglichkeit, sich über die anstehende Bundestagswahl auszutauschen. "Für manche Politiker ist Inklusion noch ein Fremdwort. Die haben noch nicht verstanden, was das eigentlich wirklich bedeutet", meint ein älterer Teilnehmer. Ein jüngerer Mann sagt: "Hier auf dieser Veranstaltung werden unsere Themen behandelt. Themen, die ansonsten sehr selten angesprochen werden."
Auch Referentin Bergzoll zeigt sich nach der Veranstaltung zufrieden: "Ich hoffe, ich konnte heute die Menschen motivieren, wählen zu gehen". Das sei wichtig, damit Politik inklusiver wird - zur Bundestagswahl und darüber hinaus.
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