Anfang Dezember 2020 reichte es Peter Meinzinger*. Mehrmals kamen seine drei Söhne aus ihrer Waldorfschule im ländlichen Oberbayern zurück und erzählten, dass es Lehrer gebe, die keine Maske tragen – oder Schüler sogar dazu zwangen, die Maske im Unterricht abzunehmen. Die Jungs weigerten sich, der Vater ist Risikopatient. Mal setzten sie sich durch, mal die Lehrer. Meinzinger setzte sich an den Computer und macht seinem Ärger Luft. Er schrieb, dass er das alles "skandalös" finde. Dass die Lehrer ihre Autorität missbrauchten, um Schutzbefohlene zu "zwingen", Regeln zu verletzen, "die außerhalb der Schule mit Geldstrafe sanktioniert werden". Und er wies darauf hin, dass der Schule die Genehmigung entzogen werden könnte.
*Name von der Redaktion geändert.
- Zum Artikel: Masken an Schulen - Das gilt jetzt in Bayern
Berichte über Waldorf-Lehrer, die Corona-Maßnahmen missachten
Meinzinger ist nicht der Einzige, der so ein Verhalten an einer Waldorfschule erlebt. Wer googelt, findet eine Reihe von Medienberichten über Waldorf-Lehrer und -Eltern, die Coronamaßnahmen missachten, mit Verschwörungstheorien gegen Impfungen und Masken mobilisieren, die NS-Zeit verharmlosen oder im Umfeld der Querdenken-Bewegung mitmischen – auch in Bayern: An einer Waldorfschule in Landsberg am Lech soll ein Vater, der Arzt und Homöopath ist, "kritischen" Familien Gefälligkeitsatteste ausgestellt haben. Im Januar habe die Kripo deshalb seine Praxisräume durchsucht und "umfangreiches Beweismaterial" sichergestellt, berichtet die "Augsburger Allgemeine". Auf einer Demo in Lindau zeigte der Vater dann auch noch den Hitlergruß.
In einer anderen Waldorfschule in Oberbayern soll eine Lehrerin Kindern beigebracht haben, wie man die Maske so unter dem Kinn trägt, dass man sie schnell hochziehen kann, wenn jemand kommt, berichtet die "Zeit". Das bayerische Kultusministerium teilt mit: An Waldorfschulen in Bayern sei die Zahl der Maskenatteste sieben Mal so hoch wie an staatlichen Schulen. Der Verdacht liegt nahe, dass viele Gefälligkeitsatteste darunter sind. Und auch Florian Rieder, Mitarbeiter der mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Bayern, sagt dem #Faktenfuchs: "Überproportional häufig" meldeten sich bei ihm Eltern aus dem Waldorf-Kosmos.
Geschichten zu erzählen, gäbe es also viele. Was es kaum gibt, sind Eltern, die bereit sind, dies auch öffentlich zu tun. Anfragen versanden schnell, manche wollen sogar anonym nicht reden, aus Angst, identifiziert und dann an den Schulen drangsaliert zu werden. Zugleich betont jeder, mit dem der #Faktenfuchs gesprochen hat: Es ist nicht die Mehrheit, die so denkt, eher ist es eine lautstarke Minderheit. Und fast alle würden sich wünschen, dass der Dachverband sich klarer positioniert.
Das System Waldorf
Florian Rieder von der mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus ist mit der Waldorfbewegung vertraut. Er betont: Unter Lehrern wie Eltern gebe es viele "aufrechte Demokraten". Allerdings mache der "ideologische Überbau" der Waldorfbewegung die Schulen anfällig für Verschwörungsdenken und erschwere die Abgrenzung nach rechts. Doch was genau ist dieser ideologische Überbau?
In vielerlei Hinsicht gelten Waldorfschulen als Vorzeigeschulen, als Alternative für Eltern und Kinder, die dem Leistungsdruck des Regelschulsystems entkommen wollen. Auch Peter Meinzinger, Vater der drei Waldorfschüler in Oberbayern, erzählt von dem Druck, unter dem seine Söhne an den staatlichen Schulen in Bayern gelitten hätten und der irgendwann den Familienfrieden bedroht habe. Er schwärmt von den mehrseitigen Zeugnissen an der Waldorfschule, in denen Lehrer detailliert auf die Stärken und Schwächen seiner Kinder eingehen. "Auf einem staatlichen Gymnasium undenkbar", so Meinzinger.
Fächerübergreifendes Lernen, Gartenarbeit, Kreativität, Handarbeit – die Waldorfpädagogik habe ihre Stärken, sagt auch der Religionswissenschaftler Ansgar Martins, der an der Goethe-Universität Frankfurt unter anderem zu Anthroposophie forscht. Aber es gebe eben auch eine Kehrseite: die "ausgeprägte anthroposophische Neigung zu Verschwörungstheorien".
Zwar wird Anthroposophie an den Schulen nicht unterrichtet, die Schulen geben sich weltanschaulich neutral. Dennoch spielen die Lehren Steiners bis heute eine wichtige Rolle, sagt Martins: Sie sind fester Bestandteil der Ausbildung der Waldorf-Lehrer, Schüler rezitieren Steinersche "Morgensprüche". Elternabende, das erzählt Vater Meinzinger, fangen oft mit Steiner-Zitaten an. Die Anthroposophie liefere Anknüpfungspunkte für Argumente, mit denen viele Maßnahmen-Gegner jetzt hantieren, sagt Martins: Krankheiten etwa hätten in diesem Weltbild einen ganz spezifischen Sinn. Selbst gefährliche Kinderkrankheiten wie Masern gelten darin als wichtig für die kindliche Entwicklung. Entsprechend gebe es unter Anthroposophen eine Skepsis gegenüber Impfungen.
An Stelle von Impfungen betonen viele anthroposophische Ärzte die Bedeutung des Immunsystems, von Bewegung an der frischen Luft. Das klingt auch immer wieder in Artikeln an, die etwa in der "Erziehungskunst" erscheinen, einer Waldorf-internen Zeitung, die alle Schulen und Eltern erhalten. Im Januar wird darin eine anthroposophische Kinderärztin interviewt, die erklärt, dass über eine Ansteckung nicht das Virus entscheide, "sondern die Empfänglichkeit oder die Immunkompetenz des Organismus". Das gelte es zu stärken, durch eine "gesunde Lebensweise, ausreichend körperliche Bewegung, positive Gefühle, gesundes Selbstbewusstsein und eine befriedigende Weltanschauung und Lebensperspektive." Angst sei "ansteckungsfördernd".
Die Anthroposophie verbinde solche Ideen mit einer kosmischen Evolutionsgeschichte, sagt Florian Rieder. Viele Anthroposophen glaubten an Wiedergeburt, Karma, Schicksal. "Und da ist man nah dran an sozialdarwinistischen Einstellungen vom Recht des Stärkeren." Wer erkrankt, der sei im Extremfall selbst schuld – weil er sich in einem vorherigen Leben nicht richtig verhalten habe oder spirituell zu wenig gefestigt sei.
Waldorfschulen sind zur wichtigsten Anlaufstelle für "Alternative" geworden
Entscheidend für das, was derzeit an den Waldorfschulen passiert, ist aus Ansgar Martins Sicht aber nicht nur die Anthroposophie. Denn insgesamt gebe es an den Schulen immer weniger praktizierende Anthroposophen, viele Lehrer hätten keine klassische Waldorfausbildung mehr durchlaufen. Dass sich derzeit so viele Maskengegner und Verschwörungstheoretiker im Waldorfumfeld sammeln, liegt aus seiner Sicht "eher daran, dass die Schulen Anlaufstellen für eine bestimmte Alternativkultur sind".
Das System der Selbstverwaltung, in dem Eltern viel mitreden können, macht die Waldorfschulen auch attraktiv für Gruppen, die dem Staat und seinen Bildungsinstitutionen skeptisch gegenüberstehen: Meist, so Martins, seien das Menschen, die ihre Kinder alternativmedizinisch behandeln wollen oder etwa Impfen skeptisch sehen. Manchmal, das zeigt diese ARD-Recherche, sind es aber auch Menschen, die aus ideologischen Gründen ein Problem mit dem Staat haben: In Minden in NRW haben Rechtsextremisten versucht, eine freie Waldorfschule zu unterwandern.
Was tun Waldorfschulen, um Eltern und Lehrern, die mit Falschinformationen polemisieren, oder gar in verfassungsfeindlichen Bewegungen aktiv sind, etwas entgegenzusetzen? Das hängt sehr von der einzelnen Schule ab. Die 21 Waldorfschulen in Bayern sind, wie alle Waldorfschulen, weitgehend autark. Eltern, Lehrer und Schüler entscheiden über das, was an den Schulen passiert.
Es gibt zwar einen "Bund der Freien Waldorfschulen", der die Schulen in Rechtsfragen und bei der Öffentlichkeitsarbeit berät, für die Ausbildung der Waldorflehrer zuständig ist und gemeinsame Positionen entwickelt. Sanktionen verhängen, könne der Verband jedoch nicht, erklärt Andrea Wiericks, Sprecherin der Bayerischen Landesarbeitsgemeinschaft des Bundes (LAG), dem #Faktenfuchs. Höchstens "informieren und beraten". In der Praxis heißt das: Welche Strömung sich an einer Schule durchsetzt, hängt davon ab, wie sich die Elternschaft zusammensetzt. Wer besonders laut ist oder viel Zeit hat, kann auch viel Einfluss nehmen.
Offizielles ist seltsam zweideutig – und es gibt eindeutige Verbindungen zur rechten Szene
Offizielle Verlautbarungen von einzelnen Waldorfschulen oder vom Dachverband, in denen die Pandemie verharmlost oder geleugnet wird, finden sich zumindest im Rahmen dieser Recherche nicht. Aber es gibt vieles, das sehr schwammig klingt.
In einer Stellungnahme von Anfang Oktober etwa erklärt der Bund der Freien Waldorfschulen, Maßnahmen seien zwar einzuhalten – Juristen könnten jedoch "Handlungsspielräume aufzeigen, die die Schulträger nutzen können". Auch im Gespräch mit dem #Faktenfuchs ringen die bayerischen Vertreter des Dachverbands um Formulierungen:
"Als Vorstand sind wir rechtlich verantwortlich und Vorgaben des Ministeriums muss man erfüllen. Wenn man sie nicht zur Gänze erfüllen will, muss man mit der Gesundheitsbehörde ins Gespräch gehen. Letztendlich haben wir da nicht alle Freiheit, die wir uns wünschen.“ (Andrea Wiericks, LAG Bayern)
Als LAG versuche man, "Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen" und "Kommunikationsräume zu eröffnen", um einer Spaltung der Schulgemeinschaft entgegenzuwirken.
"Die Waldorfschulen zerreißt es gerade", das ist ein Satz, den man immer wieder hört, im Gespräch mit Experten, Eltern, ehemaligen Schülern. Noch ist es nach Einschätzung aller Gesprächspartner vor allem eine lautstarke Minderheit, die an den Schulen versucht, sich durchzusetzen. Anlass zu Besorgnis gebe , wie laut sie ist – und wie wenig Berührungsängste es zu rechtsoffenen Milieus wie der Querdenken-Bewegung gibt. Seit dieser Woche wird diese bundesweit vom Verfassungsschutz beobachtet – weil dort "Verbindungen zu ‚Reichsbürger-‚ und ‚Selbstverwalter‘-Organisationen sowie Rechtsextremisten in Kauf genommen oder gesucht" würden.
Verflechtungen zwischen Waldorfbewegung und Querdenkern
Da ist zum Beispiel ein Telegram-Kanal mit dem Namen "Mut zur Wahrheit an Waldorfschulen in Südbayern", der etwas über 300 Abonnenten hat. "Mut zur Wahrheit", das ist ein Slogan, mit dem auch die AfD wirbt. Regelmäßig werden in der Gruppe Aufrufe zu Querdenken-Demonstrationen geteilt und Nachrichten des "Querdenken-Anwalts" Markus Haintz weiterverbreitet, den Rieder von der mobilen Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus als "zentrale Figur der süddeutschen Corona-Verharmloserszene" bewertet.
Auch NS-Verharmlosung und längst widerlegte Falschinformationen zu PCR-Tests und Masken finden sich in dem Telegram-Kanal. Ein Schreiben etwa endet mit dem Satz "Der Saal 600 ist groß" – offenbar ein Verweis auf den Schwurgerichtssaal im Nürnberger Justizpalast. "Damit wird eine Neuauflage der Nürnberger Prozesse gegen Politiker und Staatsdiener gefordert, die angeblich faschistisch die deutsche Bevölkerung unterdrücken und eine Willkürherrschaft ausüben würden", sagt Florian Riedel von der mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus dem #Faktenfuchs.
In dem Telegram-Kanal finden sich auch Links zu Schreiben und Vorträgen des Gröbenzellers Christian Kreiß, der an der Hochschule Aalen Professor für Finanzierung ist. "Auch einer mit viel Anthroposophie im Hintergrund", heißt es über ihn in einem der Beiträge. Kreiß nennt Steiner als eins seiner Vorbilder und engagiert sich im Rahmen des Münchner Waldorf-Projektes "Wirtschaft anders denken". Er sprach bereits bei mehreren Querdenken-Veranstaltungen. In einem Video einer solchen Rede, vom letzten Juni in Ulm, schimpft Kreiß gegen die "abstoßenden, unmenschlichen und total umstrittenen Gesichtsmasken" und bezichtigt Angela Merkel der Lüge, weil sie gesagt habe, Corona sei eine Bedrohung für jeden. Seit hochrangige Querdenker sich mit Reichsbürgern trafen, distanziert Kreiß sich allerdings öffentlich: "Querdenken ist für mich jetzt tot", schreibt er in einem Beitrag für das Onlinemagazin Telepolis. In Medien wie KEN FM und Rubikon News, die etwa Florian Rieder als "umstrittene rechte Online-Portale" bezeichnet, tritt er weiterhin auf.
Petition gegen Verschwörungsmythen an Waldorfschulen
Auf den Telegram-Kanal angesprochen, ist man bei der Landesarbeitsgemeinschaft Freier Waldorfschulen in Bayern überrascht. Man höre davon zum ersten Mal, heißt es. Am nächsten Tag kommt eine Rückmeldung: Über die Inhalte des Kanals sei man "erschrocken", man überlege nun, wie damit umzugehen ist. Dass die Waldorfschulen ein besonderes Problem mit Verschwörungstheoretikern und Maßnahmengegnern hätten, findet Sprecherin Andrea Wiericks jedoch nicht: Man habe "dasselbe Problem, das alle Einrichtungen gerade haben". Man müsse "den Spagat hinbekommen" zwischen Eltern und Lehrern, die die Maßnahmen befürworten und denen, die das nicht tun.
Manche Schulen allerdings ziehen inzwischen Konsequenzen. Der Lehrerin in Oberbayern etwa, die Kindern beibrachte, die Masken unter der Nase zu tragen, wurde gekündigt. Und auch Peter Meinzinger, der Vater aus Oberbayern, sagt, die Schule habe insgesamt konstruktiv reagiert. Ein Vater forderte ihn auf, sich mehr einzubringen. Der Schulleiter rief eine Task Force ins Leben. Inzwischen werde die Maskenpflicht besser umgesetzt, die Schnelltests meist verlässlich durchgeführt.
Und: Seit Dezember gibt es auch eine Petition: "Gegen Corona-Verschwörungsmythen an Waldorfschulen", heißt sie. Eine der Initiatorinnen ist die ehemalige Waldorf-Schülerin Fiona Hauke. Sie habe viele gute Erinnerungen an ihre Schule, sagt sie dem #Faktenfuchs. Sich einzugestehen, was gerade passiert, sei deshalb ein Prozess gewesen. Der Petition gingen lange Gespräche voraus, am Ende habe sie aber viel Zuspruch erhalten. Mehr als 5000 Menschen haben inzwischen unterschrieben.
Dennoch sagt Hauke, fehle ihr bis heute eine echte Auseinandersetzung mit der Kritik innerhalb der Waldorfbewegung: Es gebe einen "Hang dazu, Kritik von außen erstmal abzulehnen und der Meinung zu sein: Man regelt das besser unter sich. Dadurch ist es echt schwierig, in dieser Waldorf-Community neue Impulse zu setzen und sich mit neuen Gedanken und Ideen zu beschäftigen."
Meinzinger will seine Kinder dennoch erstmal nicht von der Waldorfschule nehmen - denn die sind glücklich dort. Und das Problem rechter Verschwörungsdenker lasse sich ohnehin nicht mehr auf Waldorfschulen begrenzen: "Da machen wir es uns viel zu einfach, wenn wir glauben, dass wir dieses Problem isoliert in einem Schultyp haben." Für den vierfachen Vater ist deshalb klar: Es gibt nur einen Weg, Verschwörungstheoretikern zu begegnen – an Waldorfschulen und überall sonst: Laut sein und den Mund aufmachen. "Überall da, wo die Mehrheit schweigt, wird die Extreme gehört werden."
*Name von der Redaktion geändert
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