Die Corona-Pandemie sowie der Hamas-Überfall auf Israel und die israelische Gaza-Offensive haben nach Einschätzung des Verfassungsschutzes in den vergangenen Jahren zu einer verstärkten Sichtbarkeit von Antisemitismus in Deutschland geführt.
Verfassungsschutz: "Normalisierung antisemitischer Standpunkte"
"Mit Ausbruch des Gaza-Krieges und den damit verbundenen Demonstrationen war auffallend, dass sich sonst im Hinblick auf Antisemitismus eher zurückhaltende Extremisten nun weitaus offener antisemitisch äußerten", teilte das Bundesamt für Verfassungsschutz am Montag mit. "Extremisten aller Art instrumentalisieren den Krieg in Nahost und nutzen den Antisemitismus für ihre Agenda", stellt der Nachrichtendienst in seinem neuen Lagebild zum Antisemitismus für die Jahre 2022 und 2023 fest.
Die Gefahr bestehe vor allem durch Einzeltäterinnen und -täter, "die sich etwa durch die Normalisierung antisemitischer Standpunkte im breiten gesellschaftlichen Diskurs bestätigt fühlen können", schreibt die Behörde in dem Lagebild weiter. Zudem ließen Gewaltaufrufe des IS und von Al-Kaida "organisierte, antisemitisch motivierte Anschläge denkbar erscheinen".
Geplante Anschläge und antisemitische Gewaltaufrufe
Terrorexperten warnen bereits seit Jahren vor "gelebtem Antisemitismus", wie er etwa in den Propagandamagazinen des sogenannten Islamischen Staates (IS) abgebildet wird. Der IS lasse keine Gelegenheit aus, gegen Juden zu hetzen, warnen die Behörden. Solche islamistische Propaganda könne radikalisierte, junge Menschen dazu bringen, Anschläge auf Juden zu verüben.
Am Freitag wurde etwa bekannt, dass zwei junge Männer mit mutmaßlich islamistischem Hintergrund einen Anschlag auf eine Synagoge in Heidelberg geplant haben sollen. Sie sitzen in Untersuchungshaft. Besonders im Fokus der Behörden steht der sogenannte "Islamische Staat Provinz Khorasan" (ISPK). Dieser IS-Ableger befindet sich in Afghanistan – und soll schon mehrfach versucht haben, IS-Anhänger in Europa für Anschläge zu gewinnen, etwa über sein Magazin "Voice of Khurasan" oder in Chats von Messengerdiensten, wo gemäß BR24-Recherchen antisemitische Gewaltaufrufe verbreitet wurden. Neben dem IS soll auch die Hamas Anschläge geplant haben. Mutmaßliche Hamas-Unterstützer hatten wohl die israelische Botschaft in Berlin im Visier.
Drohende Zunahme antisemitischer Straftaten
Die Verfassungsschützer stellen in ihrem am Montag veröffentlichten Lagebild auch fest, dass "anlassbezogen" eine "Zunahme antisemitischer Straftaten gegen Amts- und Mandatstragende" drohe. So sei etwa bei Demonstrationen, auf denen antisemitische Bilder und Aussagen verbreitet werden, vor allem mit Gewalt gegen Polizeibedienstete zu rechnen.
Die größte Gefahr geht den Verfassungsschützern zufolge vom Rechtsextremismus aus. Ohnehin sei Antisemitismus integraler Bestandteil rechtsextremistischer Ideologie. So registrierte die Behörde 2023 auch rechtsextremistisch motivierte Mordaufrufe gegen Juden.
Verschwörungstheorien als Werkzeug
Zudem würden immer wieder Verschwörungserzählungen verbreitet. So heißt es in dem Lagebild: "Rechtsextremistische Akteurinnen und Akteure der verschiedenen Szenen und Strömungen sind sich einerseits bewusst, dass offene Judenfeindlichkeit in der Mehrheitsbevölkerung wenig Anklang findet, andererseits registrieren sie, dass die Gefahr juristischer Konsequenzen besteht. Nicht zuletzt stehen ihnen aber auch die propagandistischen Möglichkeiten vor Augen, die durch Verschwörungsideologien jeglicher Art eröffnet werden."
So würden etwa "die Rockefellers, die Rothschilds, die Morgans und die Kabale um Klaus Schwab und Bill Gates" als "Blutsauger" tituliert, die "nur durch eine Revolution gestürzt werden könnten", so die Verfassungsschützer. Dass solche Hass-Aufrufe zu Anschlägen gegen Juden verleiten können, zeigte etwa der Fall des Attentäters von Halle, den das Oberlandesgericht Naumburg 2020 wegen eines Anschlags auf eine Synagoge zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt hatte.
Haldenwang: Antisemitismus gefährlich für Demokratie
Insgesamt bleibe Antisemitismus "eine fortwährende Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung", schreibt der Verfassungsschutz auch mit Blick etwa auf Linksextremismus.
"Das Gefahrenpotenzial für Menschen und Einrichtungen jüdischen Glaubens in Deutschland ist drastisch gestiegen", konstatierte Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang. Das Lagebild bestätige, dass der Antisemitismus bei vielen Feinden der Demokratie in unterschiedlicher Ausprägung festzustellen sei. "Der Antisemitismus zeigt sich weiterhin in allen Erscheinungsformen des Extremismus", betonte Haldenwang.
Deutliche Zunahme auch in Bayern
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erklärte: "Die Spirale, dass Eskalationen im Nahen Osten zu noch mehr widerwärtigem Judenhass bei uns führen, müssen wir durchbrechen." Judenfeindliche Straftaten müssten "mit aller rechtsstaatlichen Härte verfolgt werden".
Ähnlich wie im gesamten Bundesgebiet ist die Lage auch in Bayern. Schon Ende April bilanzierte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in Bayern, dass es 2023 so viele antisemitische Vorfälle wie noch nie gegeben habe.
So wurden im Jahr 2022 rund 420 antisemitische Vorfälle in Bayern an die Behörde gemeldet, ein Jahr später waren es über 730. Die bayerischen Behörden registrierten im vergangenen Jahr hingegen knapp 600 antisemitische Straftaten. Zum Vergleich: 2022 waren es 358.
Mit Informationen von dpa und AFP.
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