Verschwörungstheorien gegen Juden, persönliche Beleidigungen, israelfeindliche Aufkleber oder sogar tätliche Angriffe: Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS Bayern), das seinen Sitz in München hat, dokumentiert seit 2019 antisemitische Vorfälle in Bayern. Auch solche, die unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen und nicht zu einer polizeilichen Anzeige führen.
Am Vormittag hat RIAS Bayern ihre Jahresbilanz für das vergangene Jahr 2023 vorgestellt. Das Ergebnis: Antisemitische Vorfälle und israelbezogener Antisemitismus haben vor allem seit dem 7. Oktober, dem Tag des Überfalls der islamisch-palästinensischen Terrororganisation Hamas auf Israel, massiv zugenommen. Die Anzahl der Vorfälle hat sich im Vergleich zum Vorjahr sogar fast verdoppelt.
- Zum Artikel: "Trauriger Höchststand" von Straftaten aus Judenhass
"Brunnenvergiftung" – Antisemitische Anschuldigung löste bereits im Mittelalter Judenverfolgungen aus
Ein aktuelles Beispiel mit einer alten Verschwörungstheorie, die kürzlich an RIAS Bayern gemeldet wurde: An einer Wand in Bayern stand in gut sichtbaren Großbuchstaben "Genocide in Gaza" – also der Vorwurf eines angeblichen Völkermordes im Gazastreifen durch die israelische Armee. Unter diesen Schriftzug hat jemand dann mit anderer Farbe hinzugefügt: "Juden vergiften die Brunnen".
Mit einem Foto dieser Schmiererei erklärt Annette Seidel-Arpacı, die Leiterin der Recherche- und Informationsstelle, wie sich Antisemitismus auch in Bayern konkret auswirkt: "Da kann man gut sehen, was da zusammenkommt an Antijudaismus, denn seit dem Mittelalter ist das eine antisemitische Anschuldigung, und gleichzeitig sieht man eine Täter-Opfer-Umkehr", so die RIAS-Leiterin im Hinblick auf den "Genozid-Vorwurf" gegen Israel.
Insbesondere die antisemitische Verschwörungstheorie einer angeblichen Brunnenvergiftung ist nicht neu, sondern schon hunderte Jahre alt. Sie wurde bereits im Mittelalter während der Pest behauptet und löste europaweit Judenverfolgungen mit unzähligen Todesopfern aus.
Fast doppelt so viele antisemitische Vorfälle wie im Vorjahr
Dr. Annette Seidel-Arpacı betont bei der Vorstellung des RIAS-Jahresberichts den enormen Anstieg antisemitischer Vorfälle in Bayern: "Die Hälfte aller Vorfälle, die wir dokumentiert haben im letzten Jahr, haben sich ereignet nach dem 7. Oktober, beziehungsweise mit dem Beginn. Wir sprechen von einem enormen Anstieg von 73 Prozent. Also man kann sagen, die Zahlen haben sich fast verdoppelt."
So wurden im Jahr 2022 rund 420 antisemitische Vorfälle in Bayern an RIAS-Bayern gemeldet, ein Jahr später waren es über 730 (siehe Vergleichsgrafik unten). Die bayerischen Behörden registrierten im vergangenen Jahr hingegen knapp 600 antisemitische Straftaten. Zum Vergleich: 2022 waren es 358 (siehe Link unten).
"Trauriger Höchststand von Judenhass"
In vielen an RIAS Bayern gemeldeten Vorfällen spielte laut Annette Seidel-Arpacı auch israelbezogener Antisemitismus eine Rolle, insbesondere seit dem 7. Oktober. Diese Vorfälle zeigten sich im Jahr 2023 vor allem auf sogenannten "pro-palästinensischen"-Kundgebungen sowie durch Aufkleber oder Schmierereien im öffentlichen Raum.
Bayerns Antisemitismus-Beauftragter Ludwig Spaenle spricht angesichts dieser starken Zunahme von einem "traurigen Höchststand von Judenhass" und fordert schnelle und konkrete Maßnahmen, zum Beispiel in der politischen Bildung: "Wir brauchen weitere Anstrengung im Bereich Bildung, schulische Bildung, außerschulische Bildung. Weil nur, wenn wir Wissen vermitteln, können wir gegen Vorurteile vorgehen. Wir brauchen den wehrhaften Rechtsstaat in seiner ganzen Breite", so der CSU-Politiker im Interview mit dem BR.
Spaenle: Kritik an Israel selbstverständlich möglich, aber kein Hass
Spaenle stellte außerdem klar: "Wir dürfen angesichts der Gefährdungslage für Jüdinnen und Juden nicht zuschauen und müssen dabei das gesamte Spektrum der Täter in den Blick nehmen. Das reicht von rechtsextremen Gruppierungen über islamistische Täter bis hin zu Menschen, die aus ihrer linksextremen Gesinnung heraus das Existenzrecht Israels infrage stellen". Das werde gerade angesichts der zunehmenden Anzahl der Straftaten seit dem 7. Oktober 2023 "unübersehbar".
Kritik an der israelischen Regierung sei selbstverständlich möglich, betonte Spaenle weiter. Aber kein Hass, der dazu führe, dass sich Jüdinnen und Juden hier in Bayern nicht mehr sicher fühlen.
💡 Was ist RIAS Bayern?
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) ist beim Verein für Aufklärung und Demokratie (VAD) e.V. angesiedelt und wird vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales gefördert. Am 1. April 2019 nahm RIAS Bayern ihre Tätigkeit auf. Hauptsächlich nimmt sie Meldungen über Antisemitismus in Bayern auf und unterstützt Betroffene. Antisemitische Vorfälle – auch solche unterhalb der Strafbarkeitsschwelle – können hier (externer Link) oder per Telefon unter 089 / 122 234 060 gemeldet werden.
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