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Sie kämpfen an der Front, sind schwer verwundet, gestorben, gefangen oder geflohen: Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat eine riesige Zahl an Menschen aus ihrem vorherigen Leben gerissen - in der Ukraine, aber auch in Russland. Wie hoch die Zahl genau ist, lässt sich derzeit nicht sagen, denn Daten fehlen oder werden nicht veröffentlicht - aber es sind mehrere Millionen Menschen, die betroffen sind.
Experte: "Massenkrieg, ohne genug junge Leute"
Die eingezogenen Soldaten wurden teils aus ihrem Arbeitsleben gerissen. Von der Teilmobilmachung in Russland seien primär Menschen betroffen gewesen, die in ihren 30er- oder 40er-Jahren waren, sagt Alexander Libman, Professor für Politikwissenschaft am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, im Gespräch mit BR24 - oftmals verheiratet, mit Kindern zuhause. Auch in der Ukraine wurden mit der Zeit immer ältere Menschen zum Militär geholt. Die "Time" (externer Link, möglicherweise Bezahl-Inhalt) berichtete im November von einem Durchschnittsalter von mittlerweile 43 Jahren.
Es sei ein "Massenkrieg", eher wie aus dem 19. oder 20. Jahrhundert, mit Hunderttausenden Soldaten. "Aber Russland und die Ukraine sind keine Gesellschaften, in denen sie genug junge Leute haben", stellt Libman zur veränderten Lage fest. Russland hat, ähnlich wie andere Industrienationen, eine alternde Gesellschaft. Hinzukommt: "Russland hatte in den vergangenen Jahren eine ziemliche demografische Flaute." Unter anderem in den 1990er-Jahren ging die Geburtenrate nach unten, "weil die Kosten der Transformation der Sowjetunion so groß waren".
Arbeitsfähige Bevölkerung fehlt
Auch in der Ukraine war schon vor 2022 die Demografie ein Punkt großer Sorge. "Der Rückgang der Bevölkerung hat sich durch den Krieg noch einmal enorm beschleunigt", sagt Félix Krawatzek im BR24-Gespräch in Bezug auf die Ukraine. Er leitet den Forschungsschwerpunkt "Jugend und generationeller Wandel" am Zentrum für Osteuropa und internationale Studien (ZOiS). "Die Mobilisierung ist mittlerweile sehr breit gestreut" - und betrifft nicht nur eine Generation. Die Folge: Die arbeitsfähige Bevölkerung schrumpft. "Es ist kolossal, was den Ukrainern da an Arbeitskraft fehlt und in den nächsten Jahren fehlen wird."
Regionale Unterschiede in Russland
Der Fachkräftemangel beeinflusst auch die russische Wirtschaft. Höhere Gehälter werden Lockmittel, ebenso in der Armee. Forschung zur Rekrutierung von Soldaten bei ethnischen Minderheiten sowie in sozial- und einkommensschwachen Regionen zeigt: "Hohe Gehälter für Soldaten wirken in solch schwächeren Regionen stärker", wie Fabian Burkhardt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, erklärt. Teils zeigten zudem Druck und Zwang Wirkung.
In Russland sind die Kriegsverluste ungleich übers Territorium verteilt. Menschen in ärmeren Regionen können sich "vor einer Mobilmachung nicht so gut schützen" wie etwa in Moskau, fügt Libman hinzu, wo Menschen eher fliehen könnten, ihre Rechte kennen würden oder Geld für einen Anwalt hätten.
Wer bleibt zurück?
Die Frage ist: Wer bleibt in den beiden Ländern zurück? Angesichts des seit gut zwei Jahren andauernden Krieges - nach den jahrelangen Kämpfen, die es zuvor bereits im Osten der Ukraine gab - kehrte in Gebieten weiter weg von der Front eine gewisse Normalität ein. Tauchen dabei Strukturen auf, wie man sie beispielsweise aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kennt? Krawatzek berichtet von einem Fall in der ukrainischen Stadt Odessa, wo vermehrt Frauen im ÖPNV tätig seien. "Das scheint mir aber sehr lokal zu sein." Die Veränderung diesbezüglich sei "ein enorm langsamer Prozess. Momentan sehe ich keine grundlegende Änderung der Arbeitsprofile oder gar der Rollenverteilung in Familien."
Wer kommt wieder?
Auch der Blick in die Zukunft sei schwierig, da alles dynamisch sei. So hängt viel von der Frage ab, wer von den ukrainischen Geflüchteten in ihre Heimat zurückkehrt. Wird es überzeugende Angebote geben? Welchen Druck macht die politische Führung? Wie verändern sich die Bedingungen in den Aufnahmeländern?
Forschung des ZOiS zu Gruppen geflüchteter Ukrainer in Deutschland und Polen zeigt die Tendenz, dass die besser situierten Geflüchteten, mit höherem Bildungsstand in den Aufnahmeländern weitaus besser zurechtkommen. Mit Blick auf eine mögliche Rückkehr ist das nicht unbedeutend. Denn den Bildungsstand in den Gesellschaften beeinflusst der Krieg ebenfalls. "Das Bildungswesen wird stärker ideologisiert", sagt Fabian Burkhardt vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung über Russland: Geänderte Lehrpläne, Universitäten arbeiten weniger international, es gibt ein Quotensystem für Familienmitglieder von Veteranen. Zudem seien manche hoch qualifizierte, junge Menschen vor einer möglichen Einberufung geflohen.
Politikwissenschaftler Libman stellt aber heraus, dass "viele Menschen nach den großen Schocks auch zurückgekehrt sind, weil sie sich im Ausland nicht etablieren konnten". Generell gelte zumindest für Russland wegen der Mobilisierung einzelner Gruppen: "Die meisten Menschen sind noch zuhause." In der Ukraine ist das Bild düsterer, schließlich wurde dieses Land angegriffen.
Mögliche Kriegsfolgen: Weniger Geburten, gebrochene Ehen
Auswirkungen auf die Familienplanung könnte der Krieg auf beiden Seiten haben. "Je mehr Menschen kämpfen, desto weniger potenzielle Familienväter gibt es", sagt Burkhardt aus Regensburg diesbezüglich. Durch fehlenden Urlaub für die Soldaten könnten außerdem Ehen kaputtgehen.
Psychische Folgen in den Gesellschaften könnten ebenfalls hineinspielen: "Auch wenn die Männer an der Front nicht sterben, sie werden sich sehr wahrscheinlich im zivilen Leben nach dem Krieg nicht integrieren können", sagt Libman.
Russlands Präsident Wladimir Putin setzt wie schon vor dem Krieg Aufrufe ab: Russische Familien sollten mindestens zwei Kinder haben, um das ethnische Überleben des Landes zu sichern, sagte er kürzlich vor Arbeitern in einer Panzerfabrik in der Ural-Region.
Bereits vor Jahren nannte Putin den Bevölkerungsrückgang eines der drängendsten Probleme Russlands. Mit dem Abnutzungskrieg in der Ukraine hat er dieses Problem jedenfalls vergrößert.
Im Audio: Zwei Jahre Krieg - wo die Ukraine steht
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