Für Abergläubische sind die Voraussetzungen für ein neues "Sommermärchen" bei der Europameisterschaft 2024 gar nicht schlecht: 2:3-Niederlage gegen die Türkei, 0:2-Pleite gegen Österreich - die aktuelle Situation erinnert stark an die Lage der Nationalelf vor der Heim-WM 2006. Zweimal - 2000 und 2004 - war die deutsche Auswahl damals nach EM-Vorrunden ausgeschieden, beim ersten Testspiel im WM-Jahr 2006 ging sie 1:4 in Italien baden. Vergurkte Probe, grandiose Premiere?
Geschichte wiederholt sich nicht. Dafür die Reaktionen der Beteiligten und "gefühlt" Beteiligten. 2006 wollten erzürnte Politiker den frisch installierten Bundestrainer Jürgen Klinsmann vor den Sportausschuss des Bundestages zerren, um die Pleite zu erklären. 2023 twittert Hubert Aiwanger zum großen Ganzen.
Post von Hubert Aiwanger auf X (Ex-Twitter):
"Das Äquivalent zu Brot und Spielen"
Gibt es sowas wie ein "paralleles Bröckeln" von Nation und Mannschaft? Klar ist: Ob das aktuelle Führungspersonal auf beiden Feldern das Format von Adenauer und Beckenbauer, Schmidt und Seeler hat, lässt sich bezweifeln. Und so zweckfrei schön, wie Freunde der reinen Fußballlehre es gern hätten, war der Sport nie.
Der österreichische Politologe Peter Filzmaier (den wir hier trotz der "Schmach von Wien" zitieren wollen) hat herausgearbeitet, dass der Fußball besonders in südamerikanischen Ländern wie Uruguay, Argentinien und Brasilien "das moderne Äquivalent zu Brot und Spielen sein kann", bei dem Nationalstolz und soziale Klischees eine große Rolle spielen. 1969 entbrannte zwischen Honduras und El Salvador sogar ein (allerdings nur fünf Tage dauernder) Krieg mit an die 2.000 Toten, nachdem sich die Fanblocks am Rande der Qualifikationsspiele zur WM 1970 blutige Auseinandersetzungen geliefert hatten.
Das Wunder von Bern: Politisch, aber ohne Kanzler
Die deutsche Nachkriegs-Fußballgeschichte ist zum Glück wirklich eine Nachkriegs-Fußballgeschichte. Beginnend 1954 in der Schweiz: Zwar stimmten die deutschen - pardon - "Schlachtenbummler" beim Finale der WM in Bern ungeniert die erste Strophe der Nationalhymne an; das gejauchzte "Aus, aus, aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!" von Radiokommentator Herbert Zimmermann drückte aber eher die Erleichterung aus, dass Deutschland nach NS-Barbarei und verlorenem Krieg zumindest im Kreis der Sportnationen wieder einen Platz hatte.
Bundeskanzler Konrad Adenauer - ohnehin eher ein Anhänger des Boule-Sports - enthielt sich jeden Kommentars, war nur in Sorge, dass die altgewohnte "Textsicherheit" der Tribüne bei den europäischen Nachbarn neues Misstrauen schüren könnte. Seine Allergie gegen das runde Leder bewahrte ihn allerdings nicht davor, dass die Karikaturisten den Staatslenker ab sofort als Mannschaftskapitän ins Bild setzten.
Erhard, Brandt, Schmidt: Der Fußball kommt ins Bild
Erst mit der Verbreitung des Fernsehens und der zunehmenden Popularität des Fußballs wurde die Politik hellhörig. Adenauers Nachfolger Ludwig Erhard ließ sich für eine Wahlwerbung ganz freiwillig im Fußballtrikot (mit Zigarre!) zeichnen. Unterzeile: "Es applaudiert das Publikum, wählt CDU und weiß warum". Schließlich spielte unter seiner Kanzlerschaft gerade die vielleicht beste deutsche Elf aller Zeiten. Das Trikot jedenfalls war glaubwürdig: Der Anhänger der SpVgg Fürth war ein so großer Fußballfan, dass er - berichtete 1965 der "Spiegel" - bei einem Abendessen mit der Queen in seinem Dienstwagen ein portables TV-Gerät installieren ließ, auf dem sein Leibwächter die Partie 1860 München gegen Westham United mitverfolgen sollte.
Willy Brandt hatte dann wieder anderes zu tun. Helmut Schmidt - laut Selbstbekundung ein "ganz weit entfernter Anhänger des HSV" - betrachtete Fußball als äußere Nebenabteilung der Außenpolitik.
Landesvater und Kabinenmutti
Richtig ins Rollen kam das Doppelpasspiel zwischen Kickern und Politikern mit Bundeskanzler Helmut Kohl, den mit Bundestrainer Berti Vogts eine persönliche Freundschaft verband, vielleicht auch das Gefühl, unterschätzt zu werden. Kohl war auch der erste, der nach dem Titelgewinn 1990 in die Mannschaftskabine eilte. Entsprechend gibt es vom "Kanzler der Einheit" mehr Fußballfotos als von allen seinen Vorgängern zusammen.
Gerhard Schröder - Fußballname: "Acker" - folgte auf dem Fuß. Angela Merkel war immerhin die erste Kanzlerin in der Männerkabine. Für sie ist es auch eine Image-Korrektur: Auf der Tribüne kann man die sonst oft als spröde empfundene Politikerin beim Aus-sich-herausgehen beobachten. Als sie Mesut Özil umarmt, wird das als politisches Signal für ein weltoffenes Deutschland gedeutet. In spieltaktischen Fragen hält sie sich Merkel-typisch bedeckt: "Wer von mir ein Machtwort in der Torwartfrage erwartet, den muss ich enttäuschen."
Fußball und Nation - Auf gleicher Ballhöhe?
Unpolitisch war der Fußball nie - siehe Argentinien, Russland, Katar und nicht zuletzt die Finanzierungsdebatten in FIFA, DFB und den Vereinen. Was nicht heißt, dass, um bei Filzmaiers Bild zu bleiben, die Qualität der "Spiele" etwas über die Qualität des "Brotes" aussagt. Für die Idee, dass die Leistungen der National-Elf auf den Zustand des Landes schließen ließen, findet man Belege - und noch mehr Gegenbelege.
Das "Wunder von Bern" 1954 - ein sehr glückliches 3:2 -, das zeitlich und sprachlich so schön mit dem "Wirtschaftswunder" (und dem Fräuleinwunder) zusammentraf, ist nicht zuletzt den Trainingsmethoden von Bundestrainer Sepp Herberger geschuldet, die noch aus den Jahren vor 1945 stammten (als der deutsche Fußball eben keine Großmacht war).
Die aus viel liberalerem Zeitgeist hervorgegangene Erfolgsmannschaft der Jahre vor 1974 wurde Weltmeister, als die Wirtschaft in Folge der Ölkrise gerade ins Abseits trudelte. Die Stimmung war bescheiden, die Inflationsrate lag 1974 bei 6,9 Prozent - exakt so hoch wie 2022.
Die Weltmeisterschaft von 1990 fühlte sich für viele wie das Sahnehäubchen auf der friedlichen Revolution von 1989 an. Dabei war die National-Elf von 1990 fast schon ein Anachronismus: Die Wiedervereinigung stand in den Startlöchern, die Mannschaft war noch rein bundesdeutsch besetzt. Wenn jetzt noch die Spieler der DDR hinzukämen, so Bundestrainer Franz Beckenbauer damals, werde "unsere Nationalmannschaft auf Jahre hinaus unschlagbar". Ein schönes Beispiel für eine gut begründbare, aber leider falsche Prognose.
Die Weltmeisterschaft 2014 kam in schwieriger Zeit gerade recht: Die Banken- und Eurokrise wirkte noch nach, die schwarz-gelbe Bundesregierung war gerade abgewählt und durch eine weitere große Koalition ersetzt worden. Die Zustimmungswerte für Bundeskanzlerin Angela Merkel stiegen von knapp 39 Prozent vor der WM auf 42 zum Jahresende.
Nagelsmann ist gewarnt. Olaf Scholz auch
Geht es dem Fußball gut, wenn das Land gut regiert wird? Oder schlecht, wenn die Wirtschaft bröckelt? Vieles spricht dafür, dass umgekehrt ein Fußballschuh draus wird: Triumphiert die Nationalmannschaft, kann der Glanz des Sieges unverdient auf die Regierenden abfärben. Spielt sie schlecht, ist das eine Steilvorlage für die Opposition. Auch für Verschwörungstheoretiker: Das neurechte Magazin "Compact" etwa macht unter der Überschrift "BRD und DFB: Die Kapitulation" eine ominöse "Regenbogen-Diktatur" für die sportlichen Misserfolge verantwortlich.
Mitunter wird in diesem Zusammenhang auch auf die angeblich mangelnde Motivation von Spielern mit Migrationshintergrund verwiesen - was ausblendet, dass etwa der erste Weltmeistertitel für Frankreich 1998 von einem dezidiert "bunten" Team erspielt wurde.
Damals, 1998, wurde das (komplett "biodeutsche") Team im Viertelfinale von Kroatien zerlegt. Zehn Wochen später wurde Helmut Kohl abgewählt. Olaf Scholz weiß wohl, warum er sich in Fußballangelegenheiten bisher eher bedeckt hält, sich dafür gern beim Volley- oder Basketball-Spielen fotografieren lässt.
Im Video: DFB: Zu viele "Einzelkämpfer", zu wenig "Drecksackmentalität"
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