Lange haben sich deutsche Finanzminister in der Rolle gefallen, ihren Kollegen aus anderen EU-Ländern die Prinzipien solider Haushaltspolitik zu erläutern. Gerne auch ungefragt. Zurzeit aber hält sich Berlin mit finanzpolitischen Ratschlägen zurück. Das Chaos rund um den nächsten Bundeshaushalt lässt ein forsches Auftreten auf EU-Ebene im Augenblick nicht ratsam erscheinen. Stattdessen müssen sich Vertreter der Bundesregierung in Brüssel unbequemen Fragen zur Lage daheim stellen.
"Darf ich Sie ganz kurz daran erinnern, wo wir gerade sind?", antwortet Christian Lindner am Donnerstag, als sich Journalisten nach der Haushaltskrise erkundigen. Hinter ihm sind EU-Flaggen zu sehen – der Finanzminister nimmt an einem Treffen mit seinen Kollegen aus anderen Mitgliedsländern teil. Sollte sich Lindner über die Frage ärgern, lässt er sich allerdings nichts anmerken. Lächelnd erinnert der FDP-Chef daran, dass man sich in Brüssel befinde – und nicht in Berlin.
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Vorläufige Haushaltsführung ist kein Shutdown
"Der Staat ist vollkommen handlungsfähig", verspricht Lindner. Keine Behörde in Deutschland werde schließen, Bundesbeschäftigte bekämen weiter ihr Gehalt, Sozialleistungen würden nach wie vor ausgezahlt. Damit versucht er, die Sorge zu zerstreuen, der immer noch schwelende Haushaltsstreit könnte den Staat lahmlegen. Tatsächlich steuert der Bund auf eine vorläufige Haushaltsführung zu, weil es zu Beginn des kommenden Jahres aller Voraussicht nach keinen gültigen Etat geben wird.
Ein Szenario, das Lindner offenbar gelassen sieht. Das mag unter anderem daran liegen, dass das Grundgesetz einen Shutdown-bedingten Stillstand der Bundesregierung ausschließt. Die Folgen für Bürgerinnen und Bürger dürften sich also zunächst in Grenzen halten – anders als in den USA, wo bei einem Haushaltsstreit tatsächlich der Regierungsapparat blockiert sein kann. Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum der Finanzminister demonstrativ zuversichtlich auf die nächsten Wochen blickt. Denn wenn seine Kabinettskollegen Vorhaben anstoßen wollen, die über bestehende rechtliche Verpflichtungen hinausgehen, müssen sie ihn im Fall einer vorläufigen Haushaltsführung erst um Erlaubnis bitten.
Haushalt 2024: kein Bundestagsbeschluss vor Jahreswechsel
Das wiederum ist ein wichtiger Grund dafür, dass SPD und Grüne den Haushalt 2024 unbedingt noch im alten Jahr beschließen wollten. Und zwar im Parlament. Jetzt aber bleibt nur noch die Hoffnung auf eine politische Grundsatzeinigung innerhalb der Koalition, die dann zum Jahresanfang in Gesetzesform gegossen werden soll. Noch liegen die Positionen jedoch weit auseinander. Seit Tagen nutzt Lindner jede Gelegenheit, um in Interviews den FDP-Standpunkt klarzumachen: keine Steuererhöhungen, kein Aufweichen der Schuldenbremse, mehr Sparsamkeit bei Sozialausgaben.
Den beiden anderen Koalitionspartnern ist die jüngste Kommunikationsfreude Lindners nicht entgangen. Hinter den Kulissen wird gerätselt, welche Strategie der FDP-Chef verfolgt. Klar ist: Dass die Ampelparteien sich bislang nicht darauf einigen konnten, wie nun die fehlenden Milliarden im Bundeshaushalt aufgetrieben werden, ist im Moment vor allem ein Problem für die SPD. Denn die Sozialdemokraten hätten die Sache gerne vor dem Bundesparteitag abgeräumt, der an diesem Freitag begonnen hat.
Haushaltskrise: Druck auf Scholz wächst
So aber werden bei dem Treffen in Berlin Debatten erwartet, die für die Führungsleute unangenehm werden könnten. Unter den Top-Genossen steht vor allem einer in der Kritik: Olaf Scholz. Denn auch in der Kanzlerpartei fragen sich manche, warum die Koalition drei Wochen nach dem Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts noch keine Lösung vorzuweisen hat. Und warum die Ampel erkennbar keinen Plan B erarbeitet hatte.
In dieser Lage versucht die SPD-Spitze, den Unmut an der Parteibasis auf die politische Konkurrenz zu lenken. "Es geht um verdammt viel in diesen Tagen", ruft ein streitlustiger Lars Klingbeil den Parteitagsdelegierten zu. Der SPD-Co-Chef sieht in der laufenden Kürzungsdebatte nur einen Vorgeschmack auf das, was möglicherweise noch kommt. "Die Marktradikalen, die den Staat für ein aufgeblähtes Monster halten: Diese Stimmen werden lauter." In diesem Zusammenhang nennt er Wirtschaftsredaktionen, die Chefetagen mancher Firmen und CDU-Chef Friedrich Merz. Sie alle sehen aus Sicht von Klingbeil jetzt die Chance, "die Axt an den Sozialstaat zu legen".
SPD will Sozialstaat verteidigen
Ein Vorwurf, den Teile von SPD und Grünen auch dem liberalen Koalitionspartner machen – wenn auch nicht auf offener Bühne. Insofern lässt sich der kämpferische Auftritt von Klingbeil, gefolgt von tosendem Applaus der Genossinnen und Genossen, auch als Warnung an den FDP-Chef verstehen. Die Botschaft zwischen den Zeilen: Auch die Sozialdemokratie hat einen Markenkern. Und sie ist bereit, ihn zu verteidigen.
Für die anstehenden Gespräche von Scholz, Lindner und Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) bedeutet das: Der Druck gerade auf den Kanzler steigt, die SPD-Forderung nach einem neuerlichen Aussetzen der Schuldenbremse im kommenden Jahr vehement einzubringen. Bisher aber hat der FDP-Chef nicht erkennen lassen, dass er sich auf ein solches Manöver einlassen würde. Andererseits: Ausgeschlossen hat er es auch nicht. Lindners Lächeln: Es hat etwas Sphinxhaftes in diesen Krisentagen.
Audio: BR24-Interview mit Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP)
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