Zwölf Tage nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien ziehen Helfer noch immer Leichen unter den Trümmern hervor. Die Zahl der Menschen, die in der Türkei durch das Erdbeben getötet wurden, ist inzwischen auf mehr als 41.000 gestiegen. In Syrien sind bisher rund 5.900 tote Menschen in Zusammenhang mit den verheerenden Beben gezählt worden. Die Zahl wird jedoch nur unregelmäßig aktualisiert. Insgesamt sind damit in beiden Ländern rund 47.000 Menschen ums Leben gekommen.
Rettung nach 296 Stunden in den Trümmern
An Wunder grenzen neue Berichte aus der Türkei über Rettungen. Aus den Trümmern eines eingestürzten Wohnhauses in Antakya sollen Helfer drei Menschen geborgen haben, darunter ein Kind. Sie seien 296 Stunden verschüttet gewesen, so der staatliche Sender TRT. Der Bericht konnte nicht unabhängig überprüft werden.
Das zwölf Jahre alte Kind habe jedoch trotz medizinischer Behandlung nicht überlebt, teilte die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu mit. Den Angaben zufolge handelte es sich bei den drei Personen um einen Mann, eine Frau und ihr gemeinsames Kind. Auf einem Video war zu sehen, wie die Helfer den Mann und die Frau per Trage zu einem Krankenwagen brachten und Mediziner das Kind behandelten.
Der überlebende Vater sagte laut Anadolu, dass er seinen eigenen Urin getrunken habe, um zu überleben. Zwei weitere seiner Kinder sind ebenfalls unter den Trümmern ums Leben gekommen.
Sonntagabend soll Rettung "größtenteils abgeschlossen" sein
Am Freitagabend war nach Angaben von Gesundheitsminister Fahrettin Koca ein Mann nach 278 Stunden in der Provinz Hatay lebend aus den Trümmern geborgen worden. Am Donnerstagabend und Freitagmorgen waren Koca zufolge drei Menschen im Zentrum von Antakya gerettet worden: ein 14 Jahre alter Junge und zwei Männer im Alter von 33 und 26 Jahren.
Rettungsteams aus Kirgistan arbeiten nach Angaben von AFP-Reportern vor Ort weiter in Antakya, nachdem ein Wärmesensor ihnen auch am Samstag noch Hinweise auf mögliche Überlebende gab. Am Sonntagabend sollen die Rettungsarbeiten im Erdbebengebiet nach Angaben der türkischen Katastrophenbehörde aber "größtenteils abgeschlossen" sein.
Internetnutzer zeigen Erdogans Umgang mit Baustandards an
In der Türkei sind nach offiziellen Angaben mindestens 84.000 Gebäude eingestürzt oder schwer beschädigt. Während die Chance auf ein Überleben in den Trümmern bei nächtlichen Temperaturen von bis zu minus 15 Grad im bergigen Teil des Katastrophengebiets weiter sinkt, erinnerten Internetnutzer in der Türkei mit Dutzenden alten Tweets und Videos an Erdogans frühere fahrlässige Politik beim Häuserbau. In einem Videoclip von 2018 gratuliert Erdogan Beamten zur Einführung eines Amnestiegesetzes, das sechs Millionen Gebäude mit nachweislichen Sicherheitslücken für bewohnbar erklärt. In einem tausendfach geteilten Tweet von 2013 hatte Erdogan aber mitgeteilt: "Gebäude töten Menschen, nicht Erdbeben. Wir müssen lernen, mit Erdbeben zu leben (...) und entsprechende Maßnahmen treffen."
Laut Experten erklärt die Nichtbeachtung von Baustandards die extrem hohe Opferzahl in der Erdbebenregion. In der Türkei sind nach offiziellen Angaben mindestens 84.000 Gebäude eingestürzt oder schwer beschädigt.
Bau neuer Häuser soll ab März beginnen
Medienberichten zufolge soll der Bau neuer Häuser auf türkischer Seite im März beginnen. Wie der türkische Minister für Stadtplanung, Murat Kurum, laut Berichten der Tageszeitung "Hürriyet" und des Staatssenders TRT sagte, sollen unter anderem erdbebensichere Wohnhäuser gebaut werden, die nicht höher als drei bis vier Stockwerke sein sollen. Kurum sprach in diesem Zusammenhang von einem Masterplan, der gemeinsam mit Experten entwickelt werden soll. Unter anderem soll darin die Besiedelung von ungeeigneten Gebieten ausgeschlossen werden.
Laut "Hürriyet" sollen die Planungen für die Bauarbeiten in der vom Erdbeben betroffenen Region in den nächsten zwei bis drei Monaten abgeschlossen sein. Die ersten Bauarbeiten sollen Kurum zufolge jedoch schon im kommenden Monat starten.
Staatsanwaltschaften ermitteln wegen Baumängeln
Unterdessen ermitteln die Staatsanwaltschaften weiter zu möglichen Verantwortlichen für die eingestürzten Gebäude. Nach Angaben von Anadolu sollen insgesamt 400 Personen verdächtig sein, wegen möglicher Baumängel an den Gebäuden eine Mitverantwortung für deren Einsturz zu tragen. 120 Menschen seien verhaftet worden, hieß es weiter.
Nach Angaben des türkischen Katastrophenschutzes Afad sind noch immer mehr als 40.000 Retter aus dem In- und Ausland im Einsatz, um Verschüttete zu bergen.
Olaf Scholz: "Deutschland hilft."
In Deutschland ist die Betroffenheit über die Erdbebenkatastrophe nach wie vor groß. Bundeskanzler Olaf Scholz versicherte den Opfern in der Türkei und Syrien die Solidarität Deutschlands. "Wir können die Katastrophe nicht ungeschehen machen. Aber wir können helfen in der Not. Und Deutschland hilft", sagte der SPD-Politiker in einer Videobotschaft mit türkischen und arabischen Untertiteln. "Als Freunde teilen wir Ihren Schmerz und als Freunde lassen wir Sie in der Not nicht allein."
Er dankte auch allen Helfern aus Deutschland. "In kürzester Zeit haben Sie eine Brücke des Mitgefühls errichtet, eine Brücke der Solidarität zwischen unseren Ländern, die menschlich so eng verbunden sind." Rund drei Millionen Bürgerinnen und Bürger in Deutschland stammten aus der Türkei, auch aus den schwer zerstörten Provinzen Hatay und Gaziantep. Viele weitere hätten Wurzeln in Syrien.
Bundesregierung erhöht Erdbebenhilfe für Syrien
Die Bundesregierung teilte indessen mit, man habe die Hilfe für die syrischen Erdbebenopfer um 22,2 Millionen Euro erhöht und weitere humanitäre Hilfe für die betroffenen Menschen in der Region angekündigt. "Auch wenn das Assad-Regime den Hilfsorganisationen einen Stein nach dem anderen in den Weg legt: Wir lassen die Menschen dort nicht allein", sagte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) der "Bild am Sonntag".
Es gehe um Mütter, Kinder und Großeltern, die seit über zehn Jahren Krieg erlebten, teils mehrmals flüchten mussten und nun ihre Liebsten unter den Trümmern betrauerten. Ihnen fehle es am Allernötigsten zum Überleben, wie etwa ein Dach über dem Kopf, sauberes Trinkwasser, Essen und Medikamente, so Baerbock. Insgesamt unterstützt Deutschland mit knapp 50 Millionen Euro die vom Erdbeben betroffenen Menschen in Syrien.
Hilfen der Hisbollah umstritten
Einige Hilfen, die nun im Erdbebengebiet ankommen, sind aber auch umstritten: Lieferungen der libanesischen Hisbollah beispielsweise. Am Samstag wollte die Schiitenmiliz eigenen Angaben zufolge 29 Lastwagen mit Decken, Heizgeräten und Milchpulver nach Aleppo schicken. Hisbollah-Kämpfer haben im syrischen Krieg maßgeblich dabei geholfen, die dortige Regierung an der Macht zu halten.
Syriens Opposition sieht die Hilfe der Miliz kritisch. Er gehe davon aus, dass die Hisbollah den Augenblick nutzen werde, um noch mehr Kämpfer, Waffen und Drogen ins krisengeplagte Nachbarland zu schmuggeln, sagte der Sprecher eines Oppositionsbündnisses der dpa. Die Hisbollah versuche aus der Notlage der Menschen Profit zu schlagen. Anführer der Miliz sollen schon lange ins lukrative Drogengeschäft in Syrien verwickelt sein und Experten zufolge ebenso wie Syriens Regierung kräftig daran mitverdienen.
IS verübt schwere Anschläge in Syrien
Die Terrororganisation IS verübte derweil mehrere Anschläge in Syrien. IS-Attentäter hätten am Freitagabend in Al-Suchna im Osten Syriens zunächst einen Checkpoint der Regierung attackiert, teilte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit. Schließlich sollen sie auf einem Feld "wahllos" mit Maschinengewehren auf Zivilisten geschossen haben, die dort nach Trüffeln suchten. Mindestens 68 Menschen starben den Angaben nach. Bereits einige Tagen zuvor hatten IS-Extremisten rund 75 Trüffel-Sammler in der Region entführt und 16 von ihnen getötet. Dutzende Menschen werden den Aktivisten zufolge noch immer vermisst.
Mit Informationen von AFP und dpa.
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