Es war ein Bild mit Symbolcharakter: Beim Treffen der europäischen Ukraine-Unterstützer mit Präsident Selenskyj in London stand der deutsche Bundeskanzler weit hinten in der letzten Reihe. Olaf Scholz (SPD) ist zwar noch im Amt, solange ein neuer Bundeskanzler nicht gewählt ist, aber er verhandelt nicht mehr auf Augenhöhe. "Lame Duck" nennt man es, wenn ein Regierungschef abgewählt wurde und daher für die Zukunft nichts mehr zu sagen hat.
Scholz‘ möglicher Nachfolger, Friedrich Merz (CDU), darf qua Protokoll nicht auf den offiziellen Bildern in Brüssel auftauchen, wohin Scholz am Donnerstag zu einem Krisentreffen der Staats- und Regierungschefs der EU reist. Dass Scholz Merz mit nach Brüssel nimmt, um ihn an den Gesprächen teilhaben zu lassen, hat der amtierende Bundeskanzler ausgeschlossen. Über seinen Sprecher ließ er mitteilen: "Ein Regierungspraktikum vor Amtsübernahme ist für Herrn Merz nicht vorgesehen." Das ist jedoch kein feindlicher Akt: Jeder Staat hat bei der EU in Brüssel einen Platz am Tisch. So ist es üblich.
Enge Abstimmung zwischen Scholz und Merz
Immerhin stimmt sich Scholz eng mit Merz ab. Nach dem Eklat im Weißen Haus telefonierten die beiden mit Blick auf den Londoner Gipfel. Auch vor dem EU-Sondertreffen gab es intensive Gespräche im Kanzleramt. Nach der Einigung zwischen SPD und Union, zusätzliche Milliarden für Verteidigung und für ein Sondervermögen Infrastruktur aufsetzen zu wollen, wird der deutsche Bundeskanzler den Kollegen und Kolleginnen in Brüssel immerhin eine Idee darüber vermitteln können, wie eine künftige Regierung sich in Sicherheitsfragen positioniert.
Und da Scholz es immer sehr wichtig war zu betonen, dass er sich dem Wohle des Landes verpflichtet fühlt, kann man durchaus davon ausgehen, dass er die Animositäten gegenüber Friedrich Merz darüber vergisst und seinem potenziellen Nachfolger in Brüssel keine Steine in den Weg legen wird.
Machtvakuum soll vermieden werden
Die letzten Amtshandlungen von Scholz werden dennoch großen Einfluss haben. Nach wie vor ist er derjenige, der die deutsche Position in Brüssel vertritt. Und nun darf er den Fünf-Punkte-Aufrüstungs-Plan von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit dem deutschen Plan abgleichen und verknüpfen. Von der Leyen (CDU) hat den EU-Staaten bereits mehr Spielraum versprochen. In ihrem "Plan zur Wiederaufrüstung Europas" ist auch davon die Rede, die strengen Schuldenregeln der Mitgliedsstaaten mithilfe einer nationalen Ausnahmeklausel zu lockern. Das gilt dann, wenn die Mitgliedsländer ihre Verteidigungsausgaben im Schnitt um 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigern.
In Brüssel wird man mit Wohlwollen auf die Einigung der Vorsondierungen geschaut haben – auch wenn Scholz damit nur sehr am Rande zu tun hatte. Bei der Fraktionssitzung seiner Partei, bei der das Ergebnis von den SPD-Vorsitzenden verkündet wurde, war Scholz nach Angaben aus Teilnehmerkreisen zu Beginn anwesend. Er bezog allerdings nicht Stellung.
Scholz schon länger "Kanzler ohne Land"
Im Prinzip war Scholz bereits in der Endphase der Ampelregierung nur eingeschränkt handlungsfähig. Auch weil der damalige Finanzminister Christian Lindner (FDP) auf der Einhaltung der Schuldenbremse und einer soliden Finanzierung der Ausgaben pochte. So scheiterte die Ampel letztlich an Haushaltsfragen, es fehlten am Ende etwa zwölf Milliarden Euro.
Als Kanzler einer rot-grünen Minderheitsregierung fehlten Scholz danach die Mehrheiten im Bundestag, um Gesetzentwürfe verabschieden zu können. Da bereits damals alle Umfragen auf einen Machtwechsel im Kanzleramt hindeuteten, galt er spätestens ab dem Bruch der Ampelkoalition als "Kanzler ohne Land".
Scholz bleibt – bis zur Neuwahl eines Kanzlers (Merz)
Fakt ist: Der Bundeskanzler bleibt so lange im Amt, bis der neu gewählte Bundestag einen Nachfolger bestimmt. Das regelt das im Artikel 69 Absatz drei des Grundgesetzes festgeschriebene Kontinuitätsprinzip. Durch diese Regelung soll sichergestellt werden, dass die Bundesrepublik handlungsfähig bleibt – nach innen und nach außen.
Die Wahl eines neuen Kanzlers erfolgt per geheimer Abstimmung mit Stimmzetteln. Damit ein Nachfolger die Mehrheit bekommt, braucht es eine Koalition. Die derzeit wahrscheinlichste Option ist schwarz-rot, beide Parteien hätten rein rechnerisch 328 Stimmen, das würde reichen. Für die sogenannte "Kanzlermehrheit" braucht es die Hälfte der Mitglieder des Bundestags plus mindestens eine Stimme. Das wären für den künftigen Bundestag 316 Abgeordnete.
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