Er habe die Entscheidung für eine "Militäroperation" getroffen – spätestens mit diesen Worten von Wladimir Putin beginnt Ende Februar 2022 der russische Überfall auf das Nachbarland Ukraine. Die angeblichen Begründungen des russischen Staatschefs und seiner Helfer für das völkerrechtswidrige Vorgehen wechseln immer wieder: Man müsse pro-russisch eingestellte Menschen im Osten der Ukraine schützen, die ganze Ukraine entwaffnen und von "Nazis befreien", kämpfe eigentlich gegen die Nato und deren Erweiterung, wolle das untergegangene Sowjetreich wiederherstellen.
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Kanzler Scholz am ersten Kriegstag: "Putin wird nicht gewinnen"
Weltweit sorgt der russische Angriff überwiegend für Entsetzen. US-Präsident Joe Biden erklärt am ersten Kriegstag: "Wir stehen an der Seite des mutigen ukrainischen Volkes." Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wendet sich in einer Fernsehansprache an die Deutschen: "Europas Völker wollen eine Zukunft in Frieden und Freiheit", sagt Scholz. Man werde den "Überfall auf ein souveränes Land" nicht hinnehmen, Putin werde "nicht gewinnen". Kurz darauf ruft er für Deutschland in seiner bisher wohl bekanntesten Rede als Kanzler eine "Zeitenwende" aus, kündigt eine massive Militär-Aufstockung an.
Seit mittlerweile einem Jahr wird in der Ukraine gekämpft, seit einem Jahr sterben dort ukrainische und russische Soldaten sowie Zivilisten – Männer, Frauen, Kinder. Ein Kriegsende ist bisher nicht in Sicht. Was waren die einschneidenden Ereignisse und Wendungen im ersten Kriegsjahr – und auch schon davor? Ein Überblick, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Russland annektiert die Krim – später Minsker Abkommen
Viele Beobachter datieren den eigentlichen Beginn des Kriegs zwischen Russland und der Ukraine auf 2014. In der Ukraine werden zu dieser Zeit pro-europäische Stimmen immer lauter. Nach langen Protesten der Euromaidan-Bewegung, vor allem in Kiew, verlässt der russlandfreundliche Präsident Wiktor Janukowitsch das Land. Bis heute versucht Russlands Staatschef Putin, die Bewegung als vom "Westen" bezahlten und gewollten Umsturz darzustellen. Auf Janukowitsch folgen in der Ukraine Regierungen, die eine Annäherung an die EU vorantreiben.
Im März 2014 annektiert Russland die strategisch wichtige Halbinsel Krim, die im Süden der Ukraine liegt. Im Osten des Landes erstarken pro-russische Separatisten, die von Moskau unterstützt werden – es kommt zu Kämpfen mit ukrainischen Soldaten und dem Abschuss des Passagierflugzeugs MH17. Phasenweise friert eine diplomatische Einigung von 2015 den russisch-ukrainischen Konflikt ein – das "Minsker Abkommen", federführend vermittelt und verhandelt von Deutschland und Frankreich. Die Kämpfe flammen aber immer wieder auf.
Russland greift an – und erreicht Kiew nicht
2022 Schluss sind die Diplomatie und das westliche Hoffen auf Putins Berechenbarkeit zumindest vorerst gescheitert. Nach langen Vorbereitungen und trotz internationaler Warnungen schickt der russische Staatschef am 24. Februar 2022 seine Truppen in die Ukraine. Zuvor erkennt Putin die von pro-russischen Separatisten ausgerufenen Volksrepubliken Luhansk und Donezk im Donbass als eigenständige Staaten an. Schon kurz vor Kriegsbeginn verhängen die USA, die EU und weitere Verbündete neue Strafmaßnahmen gegen Moskau. Diese Sanktionen werden immer weiter ausgebaut, wenngleich manche Länder bis heute etwa russisches Erdgas beziehen – Deutschland tut das aktuell nicht mehr.
Das russische Militär will in den ersten Tagen des Überfalls militärisch wichtige Ziele in der Ukraine treffen – und vor allem schnellstmöglich die Hauptstadt Kiew einnehmen, um die Staatsführung um den 2019 gewählten Präsidenten Wolodymyr Selenskyj abzusetzen. Doch eine russische Luftlandeoperation, unterstützt von Truppen aus mehreren Richtungen, erreicht ihr Ziel nicht. Die ukrainischen Soldaten können ihre Hauptstadt verteidigen. Nach mehreren Wochen zieht sich das russische Militär zurück und konzentriert sich auf völkerrechtswidrige Angriffe im Osten und Süden der Ukraine.
Massaker in Butscha und anderen ukrainischen Orten
Schon bald nach dem Rückzug werden mutmaßliche Kriegsverbrechen der russischen Armee bekannt – etwa in Butscha nördlich von Kiew. Dort finden die ukrainischen Streitkräfte nach eigenen Angaben bei ihrer Rückkehr ab 1. April mehr als 400 Menschen, die erschossen, erschlagen oder zu Tode gefoltert wurden. Die Bilder der Toten auf den Straßen gehen um die Welt, fast alle sollen Zivilisten sein. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko spricht nach den Funden von "Völkermord", internationale Ermittler für Kriegsverbrechen untersuchen die Fälle. Russland dementiert eine Beteiligung – was international weitgehend als Lüge eingestuft wird.
Schon im März erklärt Russland, man konzentriere sich darauf, Regionen wie Donezk im Osten der Ukraine zu "befreien". Trotzdem wird bis heute die ganze Ukraine attackiert. Im Frühsommer 2022 gewinnen die russischen Soldaten im Osten und Süden – offenbar mit hohen Verlusten – nach und nach an Boden. Gleichzeitig müssen sie immer wieder herbe Rückschläge hinnehmen. Am 14. April wird das Flaggschiff "Moskwa" getroffen und sinkt im Schwarzen Meer. Russland spricht von einem Unfall, inoffiziell gilt der Abschuss aber als wichtiger Erfolg für die ukrainische Kampfmoral. Laut westlichen Experten wird die Hälfte der 450-Mann-Besatzung getötet.
Belagerung von Mariupol, immer mehr Flüchtlinge
Obwohl die Kämpfe weitergehen, erklärt Putin Anfang Juli den Sieg in der Region Luhansk im Osten der Ukraine. Bereits Mitte Mai fällt die südukrainische Hafenstadt Mariupol, nach monatelanger Belagerung und Bombardierung durch die Russen mit zehntausenden Toten. Bomben fallen auch auf Krankenhäuser sowie auf ein Theater voller Zivilisten. Zum Sinnbild für den zähen Widerstand werden für die Ukrainer die Kämpfer des sogenannten Asow-Regiments, die in Mariupol eingekesselt monatelang in einem Stahlwerk ausharren – und als Allerletzte aufgeben.
Während in der Ukraine erbittert gekämpft wird, steigt die Zahl der Geflüchteten immer weiter. Weil für das Militär eine Mobilmachung gilt und die meisten Männer das Land nicht verlassen dürfen, fliehen vor allem Frauen und Kinder. Ende 2022 registriert alleine Bayern für das abgelaufene Jahr rund 150.000 Geflüchtete aus der Ukraine – manche davon reisen weiter, andere kehren in weniger umkämpfte Gebiete ihres Heimatlandes zurück. Viele aber leben bis heute im Freistaat.
Ukrainische Gegenoffensive – Erfolge im Süden und Osten
Es folgt der Sommer 2022. Im August beginnt die Ukraine eine Gegenoffensive in der Region Cherson, die im Süden des Landes gegenüber der Halbinsel Krim liegt. Im November erobert die ukrainische Armee die gleichnamige Stadt Cherson zurück. Bereits im Oktober zeigt zudem eine überraschende ukrainische Offensive im Osten Erfolge – die Stadt Lyman in der Region Donezk wird nach dem Rückzug der russischen Soldaten wieder eingenommen.
Am 8. Oktober kommt es zu einer heftigen Explosion auf der für Russland wichtigen Krim-Brücke, für die Putin die Ukraine verantwortlich macht. Die Reparaturen dauern offenbar bis heute an.
Ukraine wird EU-Beitrittskandidat
Politisch verzeichnet die Ukraine einen kleinen Erfolg: Das Land wird am 23. Juni offiziell Beitrittskandidat der EU. Bis zu einer möglichen Mitgliedschaft dürfte aber noch längere Zeit vergehen.
Der ukrainischen Hoffnung, auch in das Militärbündnis Nato aufgenommen zu werden, haben Vertreter des Bündnisses mehrfach eine Absage erteilt. In diesem Fall müssten die anderen Nato-Staaten die Ukraine auch mit eigenen Truppen unterstützen – ein Weltkrieg wäre die Folge. Interesse daran hat offenkundig niemand: Als im Herbst in Polen eine wohl fehlgeleitete Abwehrrakete zwei Menschen tötet und für einen Moment ein russischer Angriff auf ein Nato-Land im Raum steht, sind alle Seiten um rasche Deeskalation bemüht.
Putins Teil-Mobilisierung – und Kämpfer aus dem Knast
Im Herbst 2022 reagiert Putin auf den Druck der ukrainischen Armee, die inzwischen immer mehr mit westlichen Waffen versorgt wird. Zum wiederholten Mal droht er mit dem Einsatz von Atomwaffen, was viele Beobachter allerdings für reine Drohgebärde halten. Vor allem aber macht Russland am 21. September mobil – und will 300.000 Reservisten einziehen. Daraufhin verlassen tausende Menschen fluchtartig das Land. Wie viele zusätzliche Soldaten genau durch die Teilmobilisierung dazu kommen, wird nicht offiziell bekannt.
Zusätzlich zu den regulären Truppen gewinnen in Russland die sogenannten Wagner-Söldner immer weiter an Bedeutung – und mit ihnen ihr Chef Jewgeni Prigoschin. Er sucht gezielt in Gefängnissen nach neuen Kämpfern. Seine Söldner gelten als besonders brutal. Prigoschin tritt auch öffentlich immer selbstbewusster auf, gilt inzwischen als eine zentrale Machtfigur im russischen System.
"Scheinreferenden" in vier ukrainischen Regionen
Auch an anderer Stelle, jenseits seiner Soldaten-Überzahl, will Russland vermeintliche Fakten schaffen. Vom 23. bis 27. September lässt Putin in den Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson Referenden über den Anschluss an Russland abhalten. Diese Regionen stehen zumindest teilweise unter russischer Kontrolle.
Bilder der sogenannten Abstimmung zeigen durchsichtige Boxen für die Wahlzettel, zudem wird über massiven Druck auf die Bevölkerung berichtet. Am 30. September folgt die formelle Annexion durch Russland, allerdings ohne genau definierte Grenzen. International werden die Annexionen nicht anerkannt, vielfach ist von "Scheinreferenden" die Rede.
Kamikaze-Drohnen und Raketen: Angriffe auf die Infrastruktur
Seit Mitte Oktober bombardiert Russland noch massiver ukrainische Städte. Vor allem die kritische Infrastruktur der Ukraine ist das Ziel russischer Bomben, die vielfach von mutmaßlich iranischen Kamikaze-Drohnen getragen werden. Den Winter über fällt in weiten Teilen der Ukraine der Strom aus, das gilt auch für Wasserversorgung und Heizung. Immer wieder sterben Menschen, weil Wohnhäuser getroffen werden.
Im Winter erzielen die russischen Truppen Berichten zufolge leichte Geländegewinne in der Ost-Ukraine. Anfang Januar erklärt Wagner-Söldner-Chef Prigoschin die Kleinstadt Soledar für eingenommen – sie liegt vor dem strategisch wichtigen Bachmut. In seinen großen Linien wirkt der russische Angriffskrieg inzwischen aber festgefahren, die Kampflinien verschieben sich Anfang 2023 nur noch gering. Um den Jahrestag des russischen Angriffs am 24. Februar rechnen Beobachter mit verstärkten russischen Angriffen, bis hin zu einem erneuten Versuch, Kiew einzunehmen.
Kampfpanzer für die Ukraine: Deutschland und USA liefern
Im Januar 2023 beschließt Deutschland schließlich gemeinsam mit den USA, der Ukraine auch Kampfpanzer westlicher Bauart zur Verfügung zu stellen. Auch weitere EU-Staaten, die auf die deutsche Liefergenehmigung gewartet haben, wollen Leopard-Panzer liefern. Wann und wie viele genau, ist bislang offen.
Mit der Panzer-Entscheidung endet das nächste Kapitel in einer weitergehenden Debatte, die den Westen seit Kriegsbeginn beschäftigt: Wann soll man der Ukraine welche Waffen liefern, ohne ein Übergreifen der Gewalt auf andere Staaten zu riskieren? Inzwischen wird schon über die mögliche Lieferung von Kampfjets diskutiert, die das ukrainische Militär zur Verteidigung gerne ebenfalls hätte.
Bereits insgesamt über 100.000 Tote?
Eine andere Frage ist dagegen weiter offen: Wann schlägt die Stunde der Diplomatie in einem brutal geführten Angriffskrieg, der auf beiden Seiten Tag für Tag zu schweren Verlusten führt? Belastbare und unabhängig erhobene Todeszahlen gibt es nicht, die Zahl der getöteten Soldaten könnte laut Schätzungen bereits über 100.000 liegen. Bis Mitte Februar 2023 zählt das UN-Hochkommissariat in der Ukraine mindestens 7.199 getötete Zivilisten, darunter mindestens 438 Kinder. Es kursieren aber auch deutlich höhere Zahlen.
- Zum Artikel: US-Präsident Biden warnt Putin vor Angriff auf Nato
Mit Informationen von Reuters und dpa
Karte: Die militärische Lage in der Ukraine
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