München: Ein 24 Jahre alter Afghane fährt am vergangenen Donnerstag in einen Demonstrationszug von Verdi. Eine Mutter und ihr Kind werden getötet, es gibt mehr als 30 Verletzte. Villach in Österreich: Ein 23-Jähriger aus Syrien sticht am Samstag auf Passanten ein: Ein Teenager wird getötet, fünf Menschen teils schwer verletzt. Die Behörden sehen in beiden Fällen Hinweise auf islamistische Motive. Im Fokus stehen auch die Internetaccounts der beiden jungen Männer.
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Radikalisierung im Netz
Experten weisen seit Jahren darauf hin, dass sich immer mehr Menschen online radikalisieren. "Wenn sich früher jemand islamistisch radikalisiert hat, dann ist er zu Hinterhofmoscheen gelaufen, zu Gebetskreisen oder musste zu irgendwelchen extremistischen Geheimtreffen. Das ist heute gar nicht mehr notwendig. Man kann sich online radikalisieren und braucht eigentlich kein soziales Umfeld mehr", sagt Hans-Jakob Schindler vom Counter Extremism Project.
Auch das Violence Prevention Network (Externer Link) betont, dass Radikalisierungs- und Rekrutierungsprozesse ortsunabhängiger werden. "Extremistische Communitys bestehen eher virtuell und kennen keine regionalen Grenzen", sagt Thomas Mücke, Mitbegründer und Co-Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation (NGO).
Immer gefährlichere Materialien in der Timeline
Unabhängig vom Inhalt, sorgt der Algorithmus der Plattformen dafür, dass Nutzer möglichst lange online bleiben. "Wenn sich ein Weltbild extremistisch entwickelt, dann sorgt der Algorithmus dafür, dass das bestätigt und bestärkt wird. Um die Leute auf der Plattform zu halten, kommen dann immer krassere, immer gefährlichere Materialien in deren Timeline", sagt Schindler. Terrorgruppen müssten gar nicht mehr viel machen, um Menschen zu radikalisieren. "Die stellen Material ins Netz und der Algorithmus macht mehr oder weniger die Arbeit für sie", so der Experte.
"Es ist einfacher denn je in islamistischen oder dschihadistischen Blasen zu landen und das endet dann irgendwann in einer Telegramm Chatgruppe, wo man sich bespricht und möglicherweise einen Anschlag plant", sagt auch Peter Neumann, Terrorismus-Experte am Kings College in London im ZDF-Morgenmagazin.
"Salatbar-Ideologie"
Die Nutzer suchen sich inzwischen aus dem breiten Online-Angebot Versatzstücke zusammen. Schindler: "Auffällig ist, dass Täter teils nicht mehr einer Terrororganisation zugeordnet werden können." Stichwort: "Salatbar-Ideologie". "Dabei holen sich Islamisten Elemente aus verschiedenen Propagandamateralien, zum Beispiel vom IS, Al-Qaida oder der Hamas und bauen sich daraus ihr eigenes Weltbild, das komplett losgelöst ist von der tatsächlichen Realität." Das Gleiche gelte auch für den gewaltorientierten Rechts- und Linksextremismus, sowie für die Anhänger von Verschwörungstheorien.
Die Inhalte kommen teils von Bloggern und Influencern, so Mücke. "Ideologische Unterschiede zwischen den unterschiedlichen islamistischen Strömungen verlieren an Bedeutung. Statt Ideologie werden Gewaltfantasien relevanter."
Präventionsarbeit muss sich auf junge Generation konzentrieren
Präventionsarbeit müsse sich deshalb stärker auf die junge Generation konzentrieren, betont Mücke. "Ein Gefahrenfaktor ist die fehlende Perspektive und Beschäftigungslosigkeit der Betroffenen."
Außerdem brauche es ausreichende Strukturen, um traumatisierte, minderjährige Geflüchtete zu versorgen. Zudem könnten die Bundesländer in der Deradikalisierungsarbeit nicht mehr getrennt betrachtet werden. "Im Online-Bereich müssen 'virtuelle Agenten der Extremismusprävention' in die Lage versetzt werden, auf Plattformen aller Art Gefährder gezielt anzusprechen."
Projekte hangeln sich oft von Förderperiode zu Förderperiode
Doch dafür ist die finanzielle Absicherung der Arbeit im Bereich Extremismusprävention wichtig. Mücke: "Zurzeit befinden sich viele Träger von Projekten immer wieder in einer prekären Lage, da die Finanzierung an Förderperioden von unterschiedlichen Bundes- und Landesprogrammen gebunden ist. Durch das Ampel-Aus und die fehlende Finalisierung des Bundeshaushaltes ist die Situation nicht leichter geworden."
Hans-Jakob Schindler betont zudem, dass auch die Plattformen in die Pflicht genommen werden müssen. "Die Plattformen verdienen mit den Daten ihrer Nutzer Geld und analysieren sie aus wirtschaftlichem Interesse. Sie wären in der Lage, zu sagen, da sind ein paar Hundert Leute, die posten Hasskommentare, aber hier diese zwei oder drei, da geht die Radikalisierung in Richtung Gewalt, in Richtung Terroranschlag."
Die Plattformen sollten deshalb verpflichtet werden – ähnlich wie der Finanzsektor bei Geldwäsche – auffällige Vorgänge den Sicherheitsbehörden zu melden.
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Trauer in Villach
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