Um die fehlenden Finanzmittel im Bundeshaushalt 2024 auszugleichen, will die SPD auch im kommenden Jahr neue Schulden aufnehmen. Darauf verständigten sich die Delegierten auf dem SPD-Bundesparteitag in Berlin. Die Schuldenbremse müsste dann erneut ausgehebelt werden.
SPD will auch im kommenden Jahr Notlage erklären
"Heutige Investitionen in unser Land sind die Voraussetzungen für gut bezahlte, sichere Arbeitsplätze und eine starke industrielle Basis in Deutschland", heißt es in einem Antrag, der am Samstag auf dem Parteitag beschlossen wurden. "Es wäre ein unverzeihlicher Fehler bei der Bewältigung der aktuellen Herausforderungen, die Modernisierung unseres Landes zu vernachlässigen", so der Beschluss weiter. "Verfassungsrechtlich vorgegebene Spielräume für den Haushalt müssen deshalb im Sinne der Bevölkerung genutzt werden." Der Koalitionsstreit ist damit aber noch nicht vom Tisch, denn vor allem die FDP beharrte zuletzt strikt auf die Einhaltung der Schuldenregel.
Rechtlich begründen will die SPD die Aussetzung der Schuldenbremse mit den zusätzlichen Belastungen in Verbindung mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Dazu zählten neben den direkten Unterstützungsleistungen für das Land auch Folgekosten in Deutschland wegen der Aufnahme ukrainischer Geflüchteter und wegen der Auswirkungen des Konflikts im Energiebereich. Damit sei "die Voraussetzung für eine Notsituation gegeben, die eine erweiterte Kreditaufnahme (...) ermöglicht", heißt es in dem Beschluss.
Scholz: "Kein Abbau des Sozialstaates"
Bundeskanzler Olaf Scholz hatte beim Parteitag unter dem Beifall der Delegierten ausgeschlossen, an Sozialleistungen zu sparen: "Es wird in einer solchen Situation keinen Abbau des Sozialstaats in Deutschland geben." Den Bundeshaushalt zu entwickeln, sei nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes "nicht einfacher geworden", so der Bundeskanzler. Das Verfassungsgericht hatte der Finanzierungs-Lösung durch "Sondervermögen" eine Absage erteilt.
Klingbeil verteidigt SPD-Vorschlag
Im Interview mit BR24 verteidigte SPD-Chef Lars Klingbeil die Pläne. Seine Partei halte es für falsch, dass jetzt Investitionen in Industriearbeitsplätze abgebrochen würden, dass der Sozialstaat weggekürzt werde. "Und wir halten es für falsch, dass jetzt die Unterstützung für die Ukraine eingestellt wird", betonte Klingbeil. Der "völkerrechtswidrige Krieg" Russlands gegen die Ukraine erfordere viel Unterstützung, Waffenlieferungen müssten auch bezahlt werden. "Ich glaube, dass jeder auch in der politischen Debatte sieht, dass die Situation in der Ukraine eine Ausnahmesituation ist." Er sei sicher, auch die FDP wolle weiterhin an der Seite der Ukraine stehen.
Aktuell fehlen im Haushalt 2024 rund 17 Milliarden Euro. Seit Wochen verhandeln die Koalitionspartner SPD, Grüne und FDP, ob künftig die Schuldenbremse eingehalten werden soll. Die FDP verlangt wie die oppositionelle Union Kürzungen im Sozialbereich. Zum Stand der Gespräche mit den Koalitionspartnern sagte Scholz nichts Konkretes. Er wolle aber "doch die Zuversicht vermitteln, dass es uns gelingen wird". Es gehe nicht um die Lösung "einer unlösbaren Aufgabe".
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Im Interview mit BR24 sagte SPD-Chef Klingbeil, es gehe nicht ums Gewinnen, sondern um eine gemeinsame Lösung. Das Aussetzen der Schuldenbremse sei der Vorschlag der SPD, den diese auf ihrem Parteitag beschlossen habe. "Wir sind gespannt, welche anderen Ideen es gibt."
SPD-Chef: Neuwahlen ausgeschlossen
Die SPD wolle, dass investiert werde, bekräftigte Klingbeil. "Wir sehen ja, dass die Züge nicht fahren, dass es in viele Schulen reintropft. Wir sehen, dass die Bundeswehr nicht gut ausgestattet ist, dass wir bei der Digitalisierung vorankommen müssen. Das alles erfordert Investitionen, private Investitionen, aber auch öffentliche. "Und natürlich muss man da noch die Frage beantworten, wo soll das Geld herkommen? Und da sagen wir, wir wollen 95 Prozent der Menschen entlasten."
Klingbeil bestätigte, dass die Finanzierung der Investitionen nach Ansicht der SPD über eine Art Vermögens-Soli für Gutverdiener und eine Vermögensabgabe laufen soll. Das belaste fünf Prozent der Bevölkerung, die mehr Verantwortung für das Land übernehmen müssten. "Das ist ein Weg, den wir fair finden." Von den Krisenjahren hätten auch viele profitiert. "Die viel haben, müssen jetzt ein Stück weit auch Solidarität zurückgeben."
Neuwahlen wegen zu konträrer Standpunkte der Koalitionspartner schloss Klingbeil aus. Die vorgestellten Punkte seien Parteitagsbeschlüsse. Jede Partei definiere auf Parteitagen, was sie richtig finde.
Sozialleistungen und Chancen für alle im Mittelpunkt
In seiner Rede beim Parteitag erwähnte Kanzler Scholz mehrfach die lange Geschichte der SPD als Partei von Arbeitern und stellte die gegenwärtige Politik in diese Tradition: "Am allermeisten haben wir in dieser Legislaturperiode getan für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen mit kleinen Einkommen. Das ist der Verdienst, den wir hier für uns reklamieren." Er nannte unter anderem die Erhöhung von Kinder- und Wohngeld sowie des Mindestlohnes.
Die SPD mache Politik für die Leute, die es schwer hätten und kämpfen müssten und für die, denen es ganz gut gehe, und die trotzdem auch stolz jeden Tag zur Arbeit gingen. Zugleich müssten die Wachstumspotentiale in Deutschland entfesselt werden, und das entsprechend dem Klimaschutz: "Wir wollen Stahlwerke, die ohne Nutzung von Kohle funktionieren. Aber die müssen jetzt investiert werden."
Ausdrücklich sagte Scholz der Ukraine weiteren Beistand im Kampf gegen die russische Invasion zu: "Wir haben ihnen geholfen und werden das weiter tun" - auch wenn andere Staaten in der Hilfe "schwächeln". Ebenso bekräftigte er, dass Deutschland an der Seite Israels stehe und dessen Recht auf Selbstverteidigung unterstütze.
Kontra irreguläre Migration, aber pro individuelles Asylgrundrecht
Irreguläre Migration zu begrenzen und das individuelle Asylgrundrecht zu erhalten, nannte Scholz in einem Atemzug als Ziele. Seine umstrittene Forderung nach Abschiebungen von Asylbewerbern ohne Bleiberecht in großem Stil wiederholte er vor den rund 600 Delegierten nicht. Außerdem müsse Deutschland offen sein für Arbeitskräfte, deren Familienangehörige und andere, "die für das Wachstum und den Wohlstand dieser Gesellschaft notwendig sind". Anders als bei den sogenannten Gastarbeitern in den 1960er Jahren sollten sie von vornherein eine dauerhafte Aufenthalts-Perspektive erhalten: "Ich möchte, dass jemand, der nach Deutschland kommt, sagt: Ich will die Sprache lernen und schnell dazugehören." Dann könne es auch Einbürgerungsfeiern geben, "wo die ganze Familie kommt, alle die besten Klamotten anziehen und dann am Schluss die Nationalhymne gespielt wird. Das ist das, was ich mir unter Integration vorstelle."
Video: Scholz gibt sich kämpferisch
Vertrauensvotum für Saskia Esken und Lars Klingbeil
Angesichts des gegenwärtigen Streits in der Koalition - "manches von dem, was da so passiert ist, hätte ich echt nicht gebraucht" - appellierte Scholz an die Geschlossenheit der eigenen Partei. "Niemand hat damit gerechnet, dass wir das so lange durchhalten", sagte er. Er rief seine Partei dazu auf, weiterhin gut zusammenzuarbeiten.
Bereits am Freitag war Scholz auf dem Parteitag freundlich empfangen worden. Er hatte erleichtert gewirkt, als die Vorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil mit großer Mehrheit wiedergewählt wurden. Beide hatten in ihren Bewerbungsreden auf ein starkes soziales Profil der SPD und einen aktiven Staat beim klimaneutralen Umbau der Wirtschaft gedrungen. Dafür riefen sie zu einer Reform der Schuldenbremse auf. Klingbeil nannte sie ein "Wohlstandsrisiko". Es sei notwendig, zukunftsweisende Investitionen tätigen zu können. Die Finanzierung großer Generationenaufgaben "können wir nicht aus dem Haushalt stemmen", hob Esken hervor. "Wir schlagen eine Schuldenregel vor, die Zukunftsinvestitionen anders behandelt als laufende Kosten."
Die Parteijugend hatte vehement auf eine Abschaffung der Schuldenbremse gedrängt. "Nichts bedroht die Zukunft unserer Generation mehr als diese vermaledeite Schuldenbremse", sagte Juso-Chef Philipp Türmer. Später einigten sich Jusos und Parteivorstand auf die Formulierung, eine starre Begrenzung der Kreditaufnahme, wie sie derzeit in Verfassungen stehe, werde abgelehnt: "Sie verhindern Investitionen und beeinträchtigen die Handlungsfähigkeit des Staates."
Als Gast des ersten SPD-Bundesparteitages seit zwei Jahren wird am Nachmittag Pedro Sánchez erwartet. Der Ministerpräsident Spaniens ist auch der Vorsitzende der dortigen sozialistischen Partei.
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