Das war nicht im Protokoll des Türkei-Besuchs des Bundespräsidenten vorgesehen: Frank-Walter Steinmeier informiert sich gerade am historischen Istanbuler Bahnhof Sirkeci über den Aufbruch von türkischen Gastarbeitern nach Deutschland in den 60er Jahren - da erschallen aufgebrachte Rufe vom gegenüberliegenden Bahnsteig.
40 bis 50 Frauen und Männer skandieren Parolen wie: "Genozid-Unterstützer Deutschland!" – "Kindermörder Deutschland!" Oder: "Free Gaza!" Sie schwenken eine Palästina-Fahne, halten Plakate hoch. Auf einem ist Steinmeiers Gesicht zu sehen - neben Adolf Hitler und Israels Ministerpräsident Benjamin Nethanjahu. Die Polizei in Instanbul drängt die Demonstrierenden zurück, aber lässt sie weiter rufen.
Konflikt wegen Hamas? Steinmeier kennt Erdoğans Reizbarkeit
Deutschlands Solidarität mit Israel sehen viele Menschen in der Türkei kritisch. Während Deutschland und die EU die Hamas als Terrororganisation einstufen, unterstützt sie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Erst am Wochenende hatte er den Hamas-Auslandschef Ismail Hanija empfangen.
Steinmeier selbst wird auf Erdoğan treffen. Er kennt die Reizbarkeit des türkischen Präsidenten, mit dem er in den vergangenen Jahren gelegentlich schon persönlich aneinandergeraten war. Der Besuch birgt viel Konfliktpotenzial. Streitthemen prägen die Beziehungen auf Regierungsebene - die Defizite der Türkei im Bereich Demokratie und Menschenrechte etwa oder die aktuelle Unterstützung der Türkei für die Hamas.
Die Planer im Bundespräsidialamt haben sich deshalb eine ungewöhnliche Choreografie des Steinmeier-Besuchs ausgedacht. Der Bundespräsident lässt Erdoğan erstmal links liegen, die beiden treffen erst kurz vor Steinmeiers Abreise am Mittwoch aufeinander. Davor trifft Steinmeier Oppositionspolitiker und Vertreter der Zivilgesellschaft. Sein Besuch gilt also in gewisser Weise nicht nur Erdoğans Türkei, sondern auch einer Türkei, wie sie in Zukunft einmal sein könnte.
Eine demokratischere Türkei nach Erdoğan?
Steinmeiers Türkei-Reise fällt in eine Zeit, in der im politischen System der Türkei einiges in Bewegung geraten ist. Bei der Kommunalwahl vor wenigen Wochen hat Erdoğans AK-Partei ihre empfindlichste Niederlage in den 20 Jahren ihrer Herrschaft hinnehmen müssen. Die Türkinnen und Türken zeigen ihrem Präsidenten die Grenzen seiner Macht. Steinmeier will in seinen Gesprächen vor Ort ausloten, wohin diese Entwicklung führen könnte - vielleicht zu einer liberaleren, demokratischeren Türkei nach Erdoğan?
Für eine solche Türkei steht Ekrem Imamoğlu. Istanbuls Bürgermeister ist der neue Star der türkischen Politik - ein Hoffnungsträger, in dem manche bereits den nächsten Präsidenten sehen. Imamoğlu ist Steinmeiers erster Gesprächspartner in der Türkei, was durchaus als Signal verstanden werden kann.
Auch Fahrt ins Erdbebengebiet
Zudem wird Steinmeier das türkische Erdbebengebiet besuchen. Die Stadt Nurdaği mit einstmals 42.000 Einwohnern wurde bei der Katastrophe fast zur Hälfte zerstört. Rund 2.500 Menschen kamen ums Leben. Steinmeier will dort ein Unterbringungszentrum für türkische und syrische Erdbebenopfer aufsuchen.
Allein in der Türkei starben bei dem Erdbeben nach offiziellen Angaben mehr als 53.000 Menschen. Auch in Syrien kamen Tausende zu Tode. Die Bundesregierung sagte beiden Ländern damals Hilfe in Höhe von 238 Millionen Euro zu. Ein weiterer hoher Millionenbetrag kam durch private Spenden hinzu. Deutschland leistete damals die größte bilaterale Hilfe.
Zudem wurden in einem beschleunigten und vereinfachten Verfahren mehr als 17.000 Visa für vom Erdbeben betroffene Türkinnen und Türken ausgestellt. Sie konnten damit vorübergehend oder im Rahmen des Familiennachzugs auch dauerhaft nach Deutschland kommen.
Döner-Diplomat Steinmeier
Auch der Türkei möchte Steinmeier die Hand reichen. Mit dabei im Präsidenten-Airbus: ein tiefgefrorener 60 Kilogramm schwerer Dönerspieß aus dem Berliner Grillimbiss "Hisar" - mitsamt Imbissbesitzer Arif Keles, der das Fleisch am Montagabend beim Empfang des Bundespräsidenten am Bosporus servieren sollte. Eine Geste, mit welcher der Bundespräsident die "zwischenmenschlichen und zwischenkulturellen Beziehungen" zwischen beiden Ländern zum Ausdruck bringen will, so sagt es Steinmeier in Istanbul.
Mit Informationen von dpa
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