04.05.2023: Wahlberechtigte Türken stehen vor einem Wahllokal in Stuttgart zur Abstimmung für die Türkei-Wahlen.
Bildrechte: Foto: Bernd Weißbrod/dpa
Audiobeitrag

04.05.2023: Wahlberechtigte Türken stehen vor einem Wahllokal in Stuttgart zur Abstimmung für die Türkei-Wahlen.

Audiobeitrag
>

Letzter Tag: So bangen Türken in Deutschland um den Wahlausgang

Letzter Tag: So bangen Türken in Deutschland um den Wahlausgang

Seit dem 27. April konnten 1,5 Millionen wahlberechtigte Türken in Deutschland an der türkischen Präsidentschaftswahl teilnehmen. Heute war der letzte Tag. Die Stimmen aus Deutschland sind wichtig, denn es wird ein knapper Wahlausgang erwartet.

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

Die Spannung ist groß: Unterstützer von Recep Tayyip Erdoğan hoffen, dass der türkische Präsident noch einmal gewinnt. Erdoğan-Gegner wünschen sich, dass sich das Sechserbündnis des Oppositionskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu durchsetzen kann. Seit dem 27. April konnten 1,5 Millionen wahlberechtigte Türkinnen und Türken in Deutschland abstimmen, davon etwa 170.000 in Bayern. Heute war die letzte Chance der Stimmabgabe – seit 16 Uhr sind die Wahllokale geschlossen.

Türkischer Botschafter: Wahlbeteiligung über 50 Prozent

Nach Angaben des türkischen Botschafters in Berlin, Ahmet Başar Şen, haben rund 600.000 bis 700.000 Menschen bis Montagmittag an den 17 Wahlorten in Deutschland ihre Stimme abgegeben. Zudem haben mehrere Zehntausend im Ausland lebende Türken an den Grenzübergängen abgestimmt. "Das Interesse der Wähler ist groß. Wir haben mit Sicherheit eine Wahlbeteiligung von über 50 Prozent, das freut uns sehr", sagte Şen im Gespräch mit BR24.

Die Abstimmung in Deutschland sei bisher gut verlaufen, betonte der Botschafter. Die Wahllokale würden draußen von der deutschen Polizei gesichert, in den Wahllokalen sei ein privater Sicherheitsdienst. Zwar habe es "manchmal hitzige Diskussionen" gegeben, zu Rangeleien sei es aber nicht gekommen. Die Stimmzettel werden laut Şen ab dem 10. Mai mit Sonderflügen nach Ankara gebracht. Die Ergebnisse der im Ausland lebenden Türken werden dann zusammen mit den Stimmzetteln in der Türkei am 14. Mai nach dem Schluss der Wahllokale ausgezählt und die Ergebnisse einzelner deutscher Städte ab dem 15. Mai bekannt gegeben.

Erdoğan muss um Machterhalt zittern

Auch das Parlament wird am Sonntag neu gewählt. Das Oppositionsbündnis, zu dem unter anderem die CHP, die Mitte-Rechts-Partei IYI, die islamistische SP und die Demokratische Partei gehört, liegt in den meisten Umfragen wenige Punkte vor dem Regierungsbündnis aus Erdoğans AKP, der nationalistischen MHP, der rechten BBP und der islamistischen YRP – viele türkische Parteien haben deshalb auch in Deutschland intensiv um Stimmen geworben.

Im vergangenen September war ein Wahlkampfauftritt in einer Moschee der rechtsextremistischen Grauen Wölfe in Neuss bekannt geworden. In einer Rede forderte damals ein Abgeordneter, Anhänger der verbotenen PKK und des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen zu vernichten. Der Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen reagierte damals mit "Besorgnis".

Aus Bayern sind ähnliche Vorfälle nicht bekannt. "Dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz sind keine türkisch-rechtsextremistischen Wahlkampfaktivitäten in Bayern im Zusammenhang mit den Wahlen in der Türkei bekannt", die sich auf dem Niveau des Wahlkampfauftritts in Neuss bewegten, teilte das bayerische Innenministerium auf Anfrage mit. Dem Amt sei allerdings bekannt, "dass in Deutschland/Bayern lebende Anhängerinnen und Anhänger der Ülkücü-Bewegung/Graue Wölfe in den sozialen Medien vereinzelt für die türkisch-ultranationalistische Partei MHP werben". Das sei aber nicht ungewöhnlich. Die MHP unterliege nicht dem Beobachtungsauftrag des bayerischen Verfassungsschützes.

Keine große Wahlkampfveranstaltungen

Große Wahlkampfveranstaltungen mit türkischen Politikern wie in früheren Jahren gab es nicht – dies ist drei Monate vor der Wahl untersagt. Allerdings gab es Berichte, dass türkische Politiker in Kulturvereinen und Moscheen unterwegs gewesen seien. Der AKP-Abgeordnete Muhammed Fatih Toprak sagte zudem in einem türkischen TV-Interview, dass in Deutschland und anderen europäischen Ländern 30.000 "Freunde" im Wahlkampf aktiv seien.

"Alle Parteien haben in Deutschland Wahlkampagnen im Rahmen der hiesigen Rechtvorschriften geführt, weil es ein demokratischer Prozess ist, hier Wähler und Wählerinnen gibt und die brauchen Informationen über Parteien, die zu ihrer Wahl stehen", sagte Botschafter Şen. Wie viele Wahlhelfer die verschiedenen Parteien im Einsatz hatten, könne er nicht sagen.

Busse und Privat-Shuttles zu den Wahlurnen

In München hatten zum Beispiel mehrere Parteien am Stachus - in Fußnähe des Wahllokals - Stände aufgebaut sowie Flyer und Bonbons verteilt. Viele Parteien organisierten für ihre Anhänger Fahrten zu den Abstimmungsorten. Sie mieteten dafür Busse oder organisierten Privatfahrten. "Manche Menschen sind mit ihrem Auto zehn Mal zwischen Augsburg und München hin und hergefahren, um Wähler zu den Urnen zu bringen", sagt eine Frau aus München, die die CHP unterstützt. Die Möglichkeit zur Briefwahl gibt es nicht – auch nicht in der Türkei.

"Es gibt seit 20 Jahren zum ersten Mal die große Hoffnung, Erdoğan abzuwählen. Die Erdoğan-Anhänger spüren dies auch und sind sehr aggressiv", beschreibt der Bundesvorsitzende der Kurdischen Gemeinde Deutschland, Ali Ertan Toprak, die Stimmung. "Daher haben sich die Kurden entschieden, sich auf die Mobilisierung der Wähler zu konzentrieren, man fährt mit Bussen die Wähler zu den Wahlurnen bei den Konsulaten."

Politikwissenschaftler Çopur als "Terroristen" diffamiert

In Bayern hatten vor etwa einer Woche Erdoğan-Wahlplakate in Nürnberg für Diskussionen gesorgt – dort gab es eine Sondernutzungssatzung, diese soll nun geändert werden. Der Essener Politikwissenschaftler Burak Çopur und der Journalist Eren Güvercin, die die Plakate in den sozialen Medien kritisiert hatten, sahen sich im Anschluss Anfeindungen ausgesetzt. In der türkischen Presse wurden sie als "Terroristen" diffamiert. "Versteht ihr jetzt das Problem?", fragte der Professor den Nürnberger Oberbürgermeister Marcus König und Ministerpräsident Marcus Söder (beide CSU) vor wenigen Tagen auf Twitter.

"Selbst ich als Wissenschaftler werde von den gleichgeschalteten AKP-Medien als 'Terrorist' gebrandmarkt und zum Abschuss freigegeben", sagte Çopur gegenüber BR24. "Es ist immer wieder dasselbe Schemata des autokratischen Erdoğan-Regimes, um unliebsame Kritiker auch in Deutschland zu attackieren und einzuschüchtern: nämlich diese als vermeintliche Terroristen zu markieren und sie öffentlich zur Zielscheibe zu erklären. Dieser Hetze aus Ankara muss die Bundesregierung endlich einen Riegel vorschieben."

Kritisiert wird auch der Kontakt deutscher Politiker zu Erdoğan-nahen Moscheegemeinden. "Alle deutschen Politikerinnen und Politiker, die in den letzten Wochen bei Iftar-Empfängen von Erdogan-nahen Moscheen waren, sollten wissen, dass sie damit Erdoğan Wahlhilfe geleistet haben", so Toprak von der Kurdischen Gemeinde Deutschland. Der Ramadan endete in diesem Jahr am 20. April.

Kritik am Wahlaufruf der Grünen

Unterdessen hatten vor wenigen Tagen die Grünen alle in Deutschland ansässigen und in der Türkei wahlberechtigten Menschen zur Teilnahme an der Wahl aufgerufen. "Mit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen besteht nach Jahren der autoritären Führung unter Präsident Erdoğan eine echte Chance, zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückzukehren", heißt es in einem Beschluss des Bundesvorstandes der Partei. Berîvan Aymaz, Vizepräsidentin des nordrhein-westfälischen Landtags, postete zudem ein Video.

Darin forderte die Grünen-Politikerin die Wähler auf, "demokratisch" zu wählen und bekannte: "Mein Herz schlägt für unsere Schwesterpartei Yeşil Sol Partisi." Der türkische Botschafter in Berlin kritisierte solche "Wahlempfehlungen". "Eine Einmischung in ausländische Wahlen sollte nicht möglich sein. Stellen Sie sich vor, eine politische Partei in einem anderen Land würde sich an deutsche Wähler wenden, was würde man da sagen?"

SPD-Politiker kritisiert Grünen-Aufruf

Auch der SPD-Politiker Macit Karaahmetoğlu kritisierte den Aufruf der Grünen: "Mit solchen Aussagen erreicht man nichts Positives, man mobilisiert dadurch eher AKP-Wähler", sagte er im Gespräch mit der Bayern 2-radioWelt. "Das kommt nicht gut an bei den türkischen Wählern."

Und auch Beobachter wie der Leiter der türkischen Redaktion von WDR Cosmo, Tuncay Özdamar, sehen die Positionierung der Grünen kritisch. Özdamar schrieb auf Twitter: "Genau das ist falsch! Erdoğans Lager nutzt solche unüberlegte Dinge für sich und sagt: 'Schaut mal, sie mischen sich in unsere inneren Angelegenheiten ein!'" Tatsächlich hatte der türkische Innenminister Süleyman Soylu erklärt, dass der Wahltag der "Putschversuch des Westens" werde. In der Türkei wuchs daraufhin die Sorge, dass die Regierung damit den rhetorischen Boden für die Anfechtung einer eventuellen Niederlage zu schaffen versuche.

In der Vergangenheit war die Zustimmung für Erdoğan unter den Türken in Deutschland höher als in der Türkei – es wird deshalb mit Spannung erwartet, wie die Wahlberechtigten in Deutschland dieses Mal abstimmen werden. Erdoğan hat noch immer viele treue Anhänger, die unter anderem auf Großbauprojekte und bessere Straßen in der Türkei verweisen.

Der Bundestagsabgeordnete Karaahmetoğlu geht aber davon aus, dass auch bei den Deutsch-Türken die Wahl knapper ausgehen werde. Gleichzeitig würden in Deutschland viele Türken aber traditionell eher pro AKP und damit Erdoğan wählen. Die Gründe dafür seien vielfältig: Viele türkische Wähler in Deutschland hätten anatolische Wurzeln und würden deshalb traditionell eher konservativ wählen. Außerdem würden sie sich vor allem durch die von Erdoğan kontrollierten Medien informieren und es seien Menschen, "die Ausgrenzung und Alltagsdiskriminierung" erfahren haben. Daher würden sie "einen starken Mann, der wie Erdoğan Tacheles redet", favorisieren, so Karaahmetoğlu.

Doch viele Türkinnen und Türken sagen auch: "Es reicht." "Egal wer kommt, Hauptsache Erdoğan geht", sagt ein türkischer Restaurantbesitzer aus München. Viele junge Türkinnen und Türken, aber auch Minderheiten wie Kurden und Aleviten hoffen auf ein Ende der seit 20 Jahre andauernden Ära Erdoğan. Dilek Bilenler, zweite Vorsitzende der Alevitischen Gemeinde München, verweist auf inhaftierte Journalisten, Femizide und die hohe Inflation, die immer mehr Familien belaste. Bilenler: "Ich kann nicht verstehen, wie türkische Wähler in Deutschland auf dem Sonnendeck der Demokratie leben und gleichzeitig sagen können: 'Erdoğan ist unser Mann'."

Mit Informationen von AFP und dpa

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht's zur Anmeldung!