Auf das Urteil des Obersten US-Gerichtshofs hatte die ganze Nation gewartet. Denn wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen Anfang November wollten Amerikas Wahlberechtigten wissen, ob Ex-Präsident Trump strafrechtlich dafür verantwortlich gemacht werden kann, was er nach seiner Wahlniederlage 2020 in Gang gesetzt hatte: Die Anstiftung zur Manipulation des Wahlergebnisses mit dem Ziel, die zuvor funktionierende Machtübergabe im Weißen Haus zu seinen Gunsten zu verhindern.
Historisches, folgenschweres Urteil
Er habe als Präsident die "absolute Immunität", hatte Trump stets zu seiner Rechtfertigung behauptet. Zu keinem Zeitpunkt hatte er eingeräumt, dass Joe Biden im November 2020 gewonnen hatte und daher sein rechtmäßiger Nachfolger war. Nun liegt der historische, folgenschwere Urteilsspruch des Obersten Gerichtshofs vor: Das Gericht gewährte Trump weitgehende Immunität vor Strafverfolgung wegen Untergrabung der Wahl.
Die sechs von den Republikanern ernannten Richterinnen und Richter legten in ihrer Mehrheitsentscheidung die Machtbefugnisse des Präsidenten weiter als jemals zuvor aus. Präsidenten könnten für die Ausübung ihrer verfassungsmäßigen "Kernbefugnisse" nicht strafrechtlich verfolgt werden. Dies gelte auch in Fällen, in denen frühere Präsidenten nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt strafrechtlich verfolgt werden könnten. Auch dann hätten sie "zumindest Anspruch auf präsumtive Immunität vor Strafverfolgung für Amtshandlungen, die sie als Präsident vorgenommen haben", wie es die Doyenne der amerikanischen Supreme Court Berichterstattung, Nina Totenberg, vom öffentlich-rechtlichen Radiosender "National Public Radio" zusammenfasst.
Richterinnen warnen vor Folgen
Die drei von den Demokraten ernannten Höchstrichterinnen warnten in ihrem schriftlichen Minderheitsvotum in deutlichen Worten vor den Folgen des Urteils. Richterin Sonia Sotomayor schrieb: "Die Mehrheit gibt Präsident Trump alles, worum er bittet und mehr. Ob als präsumtiv oder absolut beschrieben, nach der Regel der Mehrheit ist der Gebrauch jeglicher Amtsgewalt durch einen Präsidenten für jeden Zweck, selbst für den korruptesten, immun gegen Strafverfolgung."
Trump jubelt
"Brillant geschrieben und weise": Unmittelbar nach dem Gerichtsurteil postete Trump auf seiner eigenen Social-Media-Plattform in Großbuchstaben, dass die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs ausgezeichnet sei. "Ein großer Gewinn für unsere Verfassung und Demokratie", er sei stolz, Amerikaner zu sein, textete Trump. Der Richterspruch "ist viel weitreichender, als einige erwartet hatten". Denn zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte legten die Obersten Richter eine Form der Immunität des Präsidenten vor Strafverfolgung fest. Danach kann Donald Trump nicht für Handlungen belangt werden, die im Rahmen seiner verfassungsmäßigen Befugnisse als Präsident lagen. "Wir kommen zu dem Schluss", so begründete der Vorsitzende Richter am Supreme Court, John Roberts die Mehrheitsentscheidung, "dass nach unserer verfassungsmäßigen Struktur der Gewaltenteilung die Natur der präsidialen Macht erfordert, dass ein ehemaliger Präsident eine gewisse Immunität vor Strafverfolgung für Amtshandlungen während seiner Amtszeit genießt".
Die Immunität ehemaliger Präsidenten sei "absolut" in Bezug auf ihre "verfassungsmäßigen Kernbefugnisse". Ein Präsident müsse "die Pflichten seines Amtes furchtlos und fair", ohne die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung ausüben. "Was die inoffiziellen Handlungen eines Präsidenten angeht", so der Vorsitzende Richter Roberts weiter, "gibt es keine Immunität". Der Oberste Gerichtshof präzisierte nicht, was im Einzelnen zu diesen verfassungsmäßigen Kernbefugnissen eines Präsidenten zählt.
Was geschieht mit den Strafverfahren gegen Trump?
Die Obersten Richter verwarfen in ihrem 6:3-Urteil die Entscheidung der unteren Instanz. In dem Verfahren vor dem Bundesgericht in Washington geht es um Trumps Bemühungen, seine Wahlniederlage gegen Biden im Jahr 2020 ungeschehen zu machen. Der Bundesrichter hatte Trumps Argument abgelehnt, wonach er einen Anspruch auf Immunität habe. Um die Rechtsfrage endgültig klären zu lassen, hatten sich Trumps Anwälte an den Obersten Gerichtshof gewandt. Mit Erfolg. Jetzt muss dieses Strafverfahren neu aufgerollt werden und es dürfte der Staatsanwaltschaft schwerfallen, genau zu belegen, in welchen Punkten Trump in seiner offiziellen Funktion gehandelt hat und in welchen Punkten in seiner inoffiziellen Funktion.
Auch beeilten sich Trumps Anwälte nach dem Urteilsspruch des Obersten Gerichtshofs, die strafrechtliche Verurteilung Trumps durch das Bezirksgericht in Manhattan aufheben zu lassen. Trump war von einer Geschworenenjury im Zusammenhang mit der Vertuschung der Affäre mit einer Porno-Darstellerin vor den Wahlen 2016 in allen 34 Punkten für schuldig gesprochen worden. Das Strafmaß wollte der Richter am 11. Juli verkünden. Ob es dabei bleibt, ist fraglich.
Biden warnt vor "gefährlichem Präzedenzfall"
Präsident Biden hielt sich bislang mit deutlicher Kritik an Urteilen des Obersten Gerichtshofs zurück. Er vermied es, das Ansehen des Supreme Court zu beschädigen, gehört doch der Oberste Gerichtshof zu den wichtigsten Institutionen der amerikanischen Gewaltenteilung. Am Montagabend jedoch machte Biden aus seiner Ablehnung des Urteils keinen Hehl: Das Gericht habe einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen, der das Amt des Präsidenten grundlegend verändern könnte. "Für alle praktischen Zwecke bedeutet die heutige Entscheidung mit ziemlicher Sicherheit, dass es praktisch keine Grenzen für das gibt, was der Präsident tun kann", sagte Biden im Weißen Haus.
Der US-Präsident, der sich nach seinem arg verunsichernden TV-Duell mit Trump in der vergangenen Woche nunmehr kämpferisch gibt, rief die Wähler auf, das zu tun, was der Oberste Gerichtshof nicht getan habe: Das amerikanische Volk solle im November entscheide, "ob Donald Trumps Angriff auf unsere Demokratie am 6. Januar (2021) ihn für ein öffentliches Amt im höchsten Amt des Landes untauglich macht", so Biden. Dies sei wichtiger denn je, "jetzt, wo das Volk weiß, dass Trump noch ermutigter sein wird, zu tun, was immer er will, wann immer er es will".
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