Es mussten alle ran, um die drohende Massenpanik im Lager der Demokraten einzudämmen: Die ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton und Barack Obama, die 84-jährige frühere Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi, Senatoren und Abgeordnete der Demokraten und eine ganze Phalanx von demokratischen Parteistrategen. Sie sprangen dem US-Präsidenten zur Seite, versicherten in Sonntags-Talkshows, auf Nachrichtenkanälen und Social-Media-Plattformen, dass Joe Bidens von offenkundiger Altersschwäche, geistigen Aussetzern und mitunter irritierender Orientierungslosigkeit geprägter Auftritt nur ein Ausrutscher gewesen sei.
In einem neuen Wahlwerbespot mit dem Titel "Ich weiß" ist ein kämpferischer Biden bei einer Wahlkampfveranstaltung im Bundesstaat North Carolina kurz nach dem verpatzten Duell zu sehen, bei der er die Amtszeit des republikanischen Ex-Präsidenten Trump in Erinnerung ruft. "Ich weiß, ich bin kein junger Mann", sagt Biden vor einer jubelnden Menge. "Aber ich weiß, wie man diesen Job macht. Ich weiß, was richtig ist und was falsch. Ich weiß, wie man die Wahrheit sagt. Ich weiß wie Millionen Amerikaner: Wenn Du hinfällst, stehst Du wieder auf."
Ehefrau stärkt Biden den Rücken
Der Präsident habe einen schlechten Abend gehabt und sei durchaus in der Lage und willens, sich dem Wahlvolk für eine zweite Amtszeit zu empfehlen. Mögliche Ersatzkandidaten beeilten sich umgehend, dem 81-jährigen Präsidenten ihre Loyalität zu versichern, wie der Gouverneur von Kalifornien, Gavin Newsom, die Gouverneurin von Michigan, Gretchen Whitmer und Vize-Präsidentin Kamela Harris. Doch diese Treuebekundungen, die von Bidens Wahlkampfteam in zahllosen Telefonaten, Mails und Messages eingefordert wurden, spiegeln die außerordentlich heikle Lage der Demokraten wider: Sollen sie den Präsidenten weiterhin nach Kräften unterstützen oder ihn zum Einlenken, zum Verzicht bewegen, um einen Wiedereinzug Donald Trumps ins Weiße Haus zu verhindern?
Sehr rasch kristallisierte sich heraus, dass die Entscheidung Bidens, im Präsidentschaftswahlkampf unverändert zu bleiben, offenkundig im engsten Familienkreis des Präsidenten getroffen wurde. "Du hast das toll gemacht! Du hast jede Frage beantwortet! Du kanntest alle Fakten", pries Bidens Ehefrau Jill ihren Gatten bei dessen ersten Wahlkampfauftritt vor Anhängern nach dem peinlichen TV-Duell. Das habe gewirkt, als ob eine Lehrerin ihren besten Schüler vor der Klasse habe loben wollen, kommentierte die "New York Times" Kolumnistin Maureen Dowd, die Biden seit bald 40 Jahren journalistisch begleitet und ihn nach eigenen Worten sehr schätzt.
Wohlmeinende US-Medien fordern Biden zum Rückzug auf
Wie in keinem anderen US-Wahlkampf zuvor, sind es diejenigen Kommentatoren und Leitartikler, die Biden wohlmeinend gegenüberstehen, die für die Demokraten und vor allem den Präsidenten politisch wie persönlich Sympathien aufbringen, die einhellig den Daumen senken. Die "New York Times" veröffentlichte am Wochenende einen Leitartikel, der Bidens langjährige politische Verdienste und dessen persönliche Charaktereigenschaften hervorhob, und zugleich an ihn und dessen Familie eindringlich appellierte: Behalten Sie das Wohl des Landes im Auge und beenden Sie Ihre Kandidatur jetzt. Paul Krugman und Thomas Friedman, jahrzehntelange journalistische Freunde Bidens, schrieben ebenfalls in der "New York Times", Biden dürfe nicht eigensinnig an seiner Absicht festhalten, die USA für weitere vier Jahre anzuführen.
David Remnick, der altgediente Chefredakteur des Traditionsblatts linksliberaler Intellektuellen "The New Yorker", warnte mit viel Empathie für den Präsidenten, "wenn er der Kandidat der Demokraten bliebe, wäre das nicht nur ein Akt der Selbsttäuschung, sondern auch der Gefährdung des Landes." So verständlich die Loyalitätsbekundungen seiner Familie und führender Demokraten sei, über Biden "bricht die Flut herein." Sein TV-Auftritt habe nicht nur die "politische Klasse oder die Kommentatoren" entsetzt. Die meisten Zuschauer seien es ebenfalls. Deshalb, so das Fazit des "New Yorker" Chefredakteurs, sei es "töricht, wenn die Bidens darauf bestehen, der Biologie zu trotzen."
Eine gute Rede oder ein energischer Wahlkampfauftritt wären nicht in der Lage "die unauslöschlichen Bilder von Donnerstagabend" wettzumachen. E.J. Dionne, seit über 30 Jahren hochrespektierter Kolumnist der "Washington Post", fasste die Entscheidung, vor der Biden jetzt steht, mit den Worten zusammen: Der Präsident habe ein beachtliches Vermächtnis, das von "Verantwortung, Anstand und echter Leistung geprägt" sei. Dieses Erbe würde Biden zerstören, "wenn sein Verbleib im Rennen Trump wieder an die Macht bringt."
Der Einfluss der Familie
Es sei ein lange zuvor geplantes Familienwochenende, das die Bidens in Camp David verbringen wollten, dem Landsitz amtierender Präsidenten in den Catoctin Mountains Marylands. Nach dem Donnerstagdesaster kam die Zusammenkunft der Familie auf dem abgeschirmten Areal jetzt zur rechten Zeit. Joe Bidens Ehefrau Jill, sein Sohn Hunter, seine Tochter Ashley sowie die Enkelkinder bilden seit langem das wichtigste und entscheidende Umfeld, das dem Präsidenten Zeit seiner jahrzehntelangen Politkarriere Rückhalt und Stütze gegeben hat. Dies gilt ganz besonders jetzt, in einer Zeit, die amerikanische Medien übereinstimmend als die schwierigste Phase im politischen Leben Bidens bezeichnen.
Während des Wochenendtreffens auf Camp David habe die Familie den Präsidenten gedrängt, "im Rennen zu bleiben und trotz der katastrophalen Debattenleistung der letzten Woche weiter zu kämpfen", wie die "New York Times" berichtet. Bidens Sohn Hunter, der vor kurzem wegen eines Verstoßes gegen das Schusswaffengesetz verurteilt worden ist, sei eine der stärksten Stimmen innerhalb der Familie, die den Patriarchen "anflehten, dem Druck zu widerstehen, die Kandidatur aufzugeben."
Amerikas Wählerinnen und Wähler sollten seinen Vater nicht als strauchelnden, alternden Präsidenten erleben, sondern als einen Politiker, der scharfsinnig und faktensicher sei. Auch die First Lady, Jill Biden, stehe vollkommen hinter der Entscheidung, wonach der Präsident seinen Wahlkampf intensiver und entschlossener fortsetzen solle.
Wie lange Biden bei dieser Strategie bleiben kann, dürfte von zwei Faktoren abhängen: Von den Umfragen, die nach dem TV-Duell mit Trump erhoben werden, und vom Spendenaufkommen für Bidens Wahlkampf. Der US-Sender CBS veröffentlichte bereits am Wochenende erste Ergebnisse zu den möglichen Auswirkungen: Demzufolge waren nur noch 27 Prozent der Befragten der Meinung, dass Biden geistig fit genug sei, um Präsident zu sein. Vor der Debatte am vergangenen Donnerstag waren es 35 Prozent. Auch in der Frage, ob Biden im Rennen bleiben sollte oder nicht, sanken die "Ja"-Stimmen von 37 auf 28 Prozent der Befragten.
Im Video: TV-Duell - Zweifel an Biden wachsen (28.06.24)
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