Im Frühsommer 2022 sitzt die ehemalige Bundeskanzlerin auf der Bühne des Berliner Ensembles und gibt in einem Gespräch mit dem Spiegel-Journalisten Alexander Osang Auskunft darüber, ob und was sie während ihrer Regierungsjahre falsch gemacht haben könnte. Im Umgang mit Putin, im Umgang mit der Ukraine, im Umgang mit den warnenden Verbündeten von Washington bis Vilnius.
Der russische Angriffskrieg ist da erst wenige Monate alt. Die ukrainischen Streitkräfte werfen die Invasionsarmee vor Kiew zurück. Nach dem Rückzug der russischen Einheiten wird in Butscha das Ausmaß der Kriegsverbrechen weltweit sichtbar, die Soldaten in Putins Auftrag verüben. All das ist der Ex-Kanzlerin nur allzu bewusst. Auch der emotional geprägte Ausruf des ukrainischen Präsidenten in Butscha, Frau Merkel möge kommen und sich das Massaker ansehen.
Was lief falsch? Tragen die Deutschen, genauer gesagt die Bundesregierungen, eine Mitschuld an der verheerenden Entwicklung, an dem Krieg Putins gegen die Ukraine? War es damals nicht die Kanzlerin, die auf dem Nato-Gipfeltreffen im April 2008 in Bukarest Nein gesagt hatte zum Drängen von US-Präsident George W. Bush sowie ost- und mitteleuropäischer Nato-Staaten, der Ukraine den langen Weg zur Mitgliedschaft im transatlantischen Verteidigungsbündnis anzubieten?
Merkel: "Ich wusste, wie Putin denkt"
Merkel formuliert an diesem Abend im Berliner Ensemble sorgfältig, nicht zuletzt geht es ihr auch um die historische Bewertung ihrer langen Amtsjahre. Sie sei damals auf dem Nato-Gipfel 2008 in der rumänischen Hauptstadt der Überzeugung gewesen, "dass Putin das nicht wird einfach geschehen lassen. Das war für ihn aus seiner Perspektive eine Kriegserklärung." Das brauche man nicht zu teilen, dass Putin den ganzen Westen als Feind ansehe. Sie habe das überhaupt nicht geteilt. Auch "dass er findet, dass er permanent gedemütigt wird. All das teile ich überhaupt nicht."
Aber sie habe gewusst, wie der russische Präsident gedacht habe. Gewusst, "dass er das genauso sieht. Und ich wollte das nicht weiter provozieren." Sie habe, so bilanziert die Alt-Kanzlerin im Frühsommer 2022, der Ukraine mehr Zeit geben wollen, um sich auf den Überfall Russlands besser vorbereiten zu können. Nicht weiter provozieren? War das der richtige Kurs?
"Es wurde weiter mit Moskau Geschäfte gemacht"
Am Sitz der Nato in Brüssel sahen das die meisten Mitgliedsstaaten anders. Die Deutschen hätten in den Jahren vor 2022 keine Anstalten gemacht, von ihren engen Wirtschaftsbeziehungen mit Russland Abschied zu nehmen. Vor allem die beiden Erdgas-Pipelines waren es, die die Verbündete als sicherheits- und energiepolitisches Hochrisiko betrachteten: Nord Stream 1, das an einem der letzten Amtstage von Bundeskanzler Gerhard Schröder 2005 vereinbart worden war, und Nord Stream 2, dessen Errichtung auf deutschem Meeresboden Bundeskanzlerin Merkel 2018 genehmigt hatte.
Russland, so sagt Stefanie Bapst, die bis 2020 anderthalb Jahrzehnte lang die ranghöchste Deutsche im Nato-Generalsekretariat war, habe ein Tabu nach dem anderen gebrochen: Es marschierte auf der Krim ein, zettelte in der Ostukraine den Krieg an, griff mit russischen Luftwaffen-Verbänden im syrischen Bürgerkrieg aufseiten des Diktators Assad ein, mit zehntausenden toten Zivilisten. All das sei in der Nato immer wieder debattiert worden. Wie solle man mit Putins Russland umgehen? Sollte die Zusammenarbeit eingestellt werden, die es im Rahmen des Nato-Russland-Rates gab?
"Das ist politische Absicht gewesen"
Stets hätten die deutschen Nato-Botschafter dazu weisungsgemäß Nein gesagt. Blauäugig sei Berlin damals nicht gewesen, meint Stefanie Babst. "Das ist politische Absicht gewesen." Osteuropäer, Polen, Kanadier, Briten und die USA hatten "immer wieder versucht, die Deutschen im Bündnis davon abzubringen an Nord Stream 2 festzuhalten und es auch als sicherheitspolitisches Problem zu betrachten." Die Vertreter Deutschlands hätten am Sitz der NATO "immer nur das wiederholt, was ihnen in Berlin jemand aufgeschrieben hatte: Nämlich Nein. Nein."
Auf deutscher Seite habe man einiges nicht verstanden. "Wir haben sehr, sehr lange an der Vorstellung festgehalten, Putin ist zwar kein Demokrat, er kommt aus dem FSB, aber irgendwie können wir dieses Russland managen." Man müsse nur lange genug immer auf die Russen einreden und ihnen Angebote machen. Kooperationsangebote. "Und das halte ich wirklich auch für einen echten Fehler in der Wahrnehmung Russlands", bilanziert die ehemalige Nato-Beamtin.
Alles richtig gemacht?
Es sei wichtig gewesen, damals mit Putins Russland versucht zu haben, im Gespräch zu bleiben. Das sagt Christoph Heusgen, von 2005 bis 2017 Merkels sicherheitspolitischer Berater im Kanzleramt, anschließend UN-Botschafter in New York und heute Chef der Münchner Sicherheitskonferenz. "Ja, wir haben unsere Wirtschaft abhängig gemacht von Russland, weil wir Russland vertraut haben." Deutschland habe gegenüber Russland auch ein Gefühl der Schuld gehabt: 20 Millionen Tote im Zweiten Weltkrieg, die Zustimmung Gorbatschows zur deutschen Wiedervereinigung.
"Russland war immer ein zuverlässiger Lieferant von Energie", sagt Heusgen und wiederholt damit das Credo der langjährigen Russland-Politik aller Bundesregierungen, von Adenauer bis in die ersten Amtsmonate von Olaf Scholz. Das besondere Verhältnis zu Russland habe es eben nun einmal gegeben. "Deswegen war es so wichtig, alles zu versuchen, auf diplomatischem Weg weiterzukommen. Wir haben Wladimir Putin goldene Brücken gebaut, und er hat alles abgerissen." Jetzt, zwei Jahre nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, müsse dagegen auch dem letzten klar sein, "dass man mit diesem Mann keine Vereinbarungen treffen kann."
Dieser Artikel ist erstmals am 2. April 2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
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