Das gestern bekannt gewordene Grundsatzpapier von FDP-Chef Lindner über eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik befeuert Spekulationen über ein baldiges Ende der Ampel-Regierung. Politiker von SPD und Grünen machten umgehend deutlich, dass sie Lindners Papier nicht für hilfreich halten. Lindner selbst beklagte, dass das Papier über "eine Indiskretion" öffentlich geworden sei. Es hätte zunächst nur im engsten Kreis der Bundesregierung beraten werden sollen.
Lindners Papier fordert grundlegende "Wirtschaftswende"
Lindner fordert in dem Papier eine grundlegende "Wirtschaftswende", um Schaden vom Standort Deutschland abzuwenden. Dazu gehören die endgültige Abschaffung des Solidaritätszuschlags auch für Vielverdiener, ein sofortiger Stopp aller neuen Regulierungen sowie ein Kurswechsel in der Klimapolitik. Damit distanzierte sich Lindner von Teilen der bisherigen Ampel-Politik.
Kritik von Koalitionären SPD und Grüne
Aus der SPD-Bundestagsfraktion kam laute Kritik an dem Konzept. Der arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Martin Rosemann, sagte dem "Tagesspiegel": "Wir brauchen jetzt keine Papiere, sondern gemeinsames Handeln, um der Industrie schnell zu helfen und Sicherheit zu geben. Vor allem brauchen wir keine Opposition in der Regierung." Der SPD-Abgeordnete Nils Schmid sprach gar von "neoliberaler Phrasendrescherei". Die FDP bleibe Antworten auf die drängenden Fragen schuldig, etwa wie Industriearbeitsplätze bewahrt und der Industriestrompreis gesenkt werden könnten.
SPD-Generalsekretär Matthias Miersch enthielt sich einer inhaltlichen Bewertung der Vorschläge und appellierte an den Zusammenhalt der Regierungskoalition: "Wichtig ist jetzt, dass der Prozess konstruktiv und lösungsorientiert von allen Beteiligten begleitet wird."
Grünen-Chef Omid Nouripour äußerte sich ebenfalls zurückhaltend: "Wir Grüne sind jederzeit bereit, ernst gemeinte Vorschläge der Koalitionspartner zum Wohle unseres Landes zu diskutieren", sagte er den Funke-Zeitungen. Deutlicher wurde der Vize-Fraktionschef der Grünen im Bundestag, Andreas Audretsch: "Das Papier ist eine Nebelkerze. Wichtiger wäre es, dass sich der Finanzminister um den Haushalt kümmert."
Markus Söder: "Neuwahlen - sofort"
CSU-Chef Markus Söder fordert als Reaktion auf Lindners Grundsatzpapier vorgezogene Bundestagswahlen. "Das Einzige, was jetzt zählt, sind Neuwahlen – sofort", sagte der bayerische Ministerpräsident der "Bild". "Es ist vorbei: Das Totenglöckchen der Ampel läutet. Eine Regierung, die gegeneinander Papiere verschickt, ist handlungsunfähig und eine Blamage für unser Land. Es ist Zeit, den Stecker zu ziehen und das unwürdige Schauspiel zu beenden. Jeder Tag länger schadet Deutschland", so Söder.
Thorsten Frei (CDU): Papier ist "ultimative Scheidungsurkunde"
Der CDU-Politiker und Parlamentarische Geschäftsführer der Union im Bundestag, Thorsten Frei, bezeichnete Lindners Papier als "ultimative Scheidungsurkunde". Der "Rheinischen Post" (Samstag) sagte er: "Es wird Zeit, dass die Regierung endlich den Weg frei macht zu Neuwahlen. Es wäre der letzte Dienst, den sie unserem Land erweisen könnte."
Der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP), der CSU-Politiker Manfred Weber, sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe: "Wir brauchen so schnell wie möglich eine handlungsfähige Bundesregierung und Neuwahlen in Deutschland." Der Ampel-Regierung werde es nicht mehr gelingen, Europa zusammenzubringen und maßgeblich zu stärken. "Ich sehe keine Führungsfähigkeit bei Kanzler Scholz mehr."
Im Video: Das Lindner-Papier und Reaktionen darauf
Wirtschaftspolitik der Ampel: Gipfel und Gegengipfel
Die deutsche Wirtschaft steckt in einer Krise, doch in der Ampel gibt es unterschiedliche Vorstellungen über Maßnahmen, um die Konjunktur anzukurbeln. Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte vergangene Woche zu einem Industriegipfel geladen, zu dem aber weder Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) noch Finanzminister Lindner eingeladen waren. Die FDP-Fraktion hatte eine Art Gegengipfel mit Verbänden veranstaltet. Habeck wiederum hatte erneut einen milliardenschweren, schuldenfinanzierten Staatsfonds vorgeschlagen, um Investitionen von Firmen zu fördern.
Mit Informationen von dpa
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