Es ist die Geschichte einer Entfremdung. Bei den Grünen erklären immer mehr Mitglieder der Nachwuchsorganisation "Grüne Jugend", die Partei zu verlassen. Erst der Bundesvorstand, jetzt auch einzelne Landesverbände. Auch in Bayern wollen alle acht Vorstandsmitglieder der "Grünen Jugend" den Rücken kehren.
In einem schriftlichen Statement sprechen sie von einem Entfremdungsprozess der letzten Monate und Jahre. "Viele Entscheidungen, die Grüne in der Regierungsbeteiligung getroffen haben, sowie den aktuellen programmatischen, inhaltlichen und strategischen Kurs, können und wollen wir nicht länger mittragen", heißt es in der Erklärung.
Frust über Regierungskurs
Zuerst wurde der Frust über längere Laufzeiten für Kohlekraftwerke, die Räumung von Lützerath, Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien oder die Reform der EU-Asylpolitik nur hinter vorgehaltener Hand geäußert. Zuletzt gaben sich Parteijugend und auch Vertreter des linken Parteiflügels kaum mehr Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen.
Aber auch Partei und Fraktion beobachteten eine Entfremdung. Während Habeck, Baerbock und Co. regierten, sinnierten die Sprecherinnen der "Grünen Jugend" über "linke Utopien" und "einen demokratischen Sozialismus". Das war vielen Spitzen-Grünen zu viel – bei allem Verständnis für die unterschiedlichen Rollen innerhalb einer Partei.
Erleichterung über Austritte
Aktuelle und frühere Funktionäre reagieren mit großer Erleichterung auf den Rückzug des Bundesvorstands der "Grünen Jugend". "Da weine ich nicht", sagt die Bundestagsabgeordnete Renate Künast. Und der bayerische Landtagsabgeordnete Benjamin Adjei sagt BR24: "Reisende soll man nicht aufhalten." Es sei das Beste für den Vorstand der Nachwuchsorganisation und für die Partei.
Als Reaktion auf den angekündigten Rückzug der Grünen-Spitze um Ricarda Lang und Omid Nouripour, will die "Grüne Jugend" ihren Austritt nicht verstanden wissen. "Eine personelle Änderung wird nicht zu einem inhaltlichen und strategischen Wandel der Partei in unserem Sinne führen", heißt es in einer Erklärung.
Verunsicherung und fehlende Strategie
Das zeigt: Die Grünen haben nicht nur ein Personalproblem, sondern auch ein inhaltliches, strategisches Problem. Mit jeder Wahlniederlage in den Bundesländern oder in Europa werden die Parteistrategen ratloser. Die verbalen Angriffe der politischen Gegner, die tätlichen Angriffe auf Wahlkämpfer verunsichern die Partei. Nur wie darauf reagieren?
In der Ampel die Ellenbogen ausfahren - wie die FDP? Lange haben die Grünen davor zurückgeschreckt. In Gesprächen mit Grünen-Politikern fällt kaum ein Wort so häufig wie "Verantwortung".
Klimapolitik aktuell wenig gefragt
Die eigenen Inhalte stärker betonen? Aktuell schwierig. Klimapolitik ist für die Grünen toxisch geworden. Trotz Extremwetters. Im aktuellen ARD-Deutschlandtrend landen Klimawandel und Umweltschutz nur auf Platz vier der wichtigsten Themen, hinter Zuwanderung, Wirtschaft und sozialer Gerechtigkeit.
Die Sprache der Grünen wird von vielen Menschen als moralisierend und bevormundend empfunden. Das Image der Verbotspartei klebt an ihnen. Der Rückzug der Parteichefs Lang und Nouripour soll da ein Befreiungsschlag sein. Doch noch fehlen nicht nur neue Köpfe, sondern auch eine Strategie für den Wahlkampf.
Habeck setzt auf Mitte-Kurs
Jetzt ist es vor allem an Robert Habeck die Partei wieder aufzurichten. Der Bundeswirtschaftsminister war von Januar 2018 bis Februar 2022 zusammen mit Annalena Baerbock Parteichef der Grünen. Die beiden brachten die Partei auf einen pragmatischen Mitte-Kurs. Der strahlte über das eigene Lager aus. Umfragen sahen die Grünen zwischenzeitlich bei mehr als 20 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2021 landeten sie bei 14,7 Prozent.
In Umfragen wurde den Grünen damals zugetraut, die besten Antworten auf die Fragen der Zukunft zu haben. Daran könnte die Strategie jetzt anknüpfen: Erfolgsgeschichten der Klimapolitik und Transformation erzählen, mit einem optimistischen Blick in die Zukunft.
Habeck (55) ist jünger als SPD-Kanzler Olaf Scholz (66) und Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz (68). Seine Social Media-Aufritte, in denen er als Vizekanzler die Welt erklären möchte, erreichen ihr Publikum. Habecks Herausforderung wird es aber sein, den Ärger über das Heizungsgesetz abzuschütteln.
Habeck-Vertraute könnte Parteichefin werden
Dabei helfen soll seine bisherige parlamentarische Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium Franziska Brantner. Sie war schon länger im Gespräch in der Grünen-Parteizentrale Habecks Wahlkampf zu organisieren. Jetzt gilt sie als aussichtsreichste Kandidatin für den Parteivorsitz. In der Logik der Partei müsste die Realo-Frau einen Mann des linken Parteiflügels an ihrer Seite haben.
Zwei Namen fallen dabei besonders häufig: Der Bundestagsabgeordnete Felix Banaszak aus Nordrhein-Westfalen. Der Wirtschaftspolitiker hatte in der vergangenen Woche in einer Mail an seine Unterstützer schon skizziert, welchen Kurs er einschlagen will: Die Grünen sollten die Leerstelle füllen, die die "Nach-Merkel-Union" lasse. Mit einer ambitionierten Klimapolitik, die in Zeiten des Wandels Sicherheit vermittele und die Gesellschaft zusammenhält.
Grünen-Parteitag entscheidet im November
Als aussichtsreicher Kandidat galt auch Andreas Audretsch. Der stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion kommt aus dem linken Berliner Landesverband. In seinem Themenbereich Arbeits- und Sozialpolitik geht er selten einer Diskussion aus dem Weg.
Brantner und Banaszak gaben zunächst über Instagram bekannt, beim Grünen-Parteitag Mitte November in Wiesbaden zu kandidieren. Über die dann am Nachmittag in Berlin gemeinsam verkündete Kandidatur sagte die 45-Jährige: "Wir wollen unseren Beitrag leisten, diesen Neustart zu gestalten." Das Land sei in schwierigen Zeiten. Die Grünen sollten dabei der Ort sein, "wo sich Menschen versammeln, die an unser Land und Europa glauben".
Audretsch wiederum kündigte an, er werde die Leitung der Kampagne zur Bundestagswahl übernehmen.
Im Audio: Brantner und Banaszak wollen Grünen-Vorsitzende werden
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