Berlin, 02.07.24: Der türkische Nationalspieler Demiral (r.) jubelt nach seinem zweiten Treffer gegen Österreich mit Mitspieler Kadioglu (l.)
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Berlin, 02.07.24: Der türkische Nationalspieler Demiral (r.) jubelt nach seinem zweiten Treffer gegen Österreich mit Mitspieler Kadioglu (l.)

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Wirbel um "Wolfsgruß" bei Türkei-Spiel: Was Sie wissen müssen

Der türkische Fußballnationalspieler Demiral hat im EM-Achtelfinale zwei Treffer erzielt – und sein zweites Tor mit dem sogenannten Wolfsgruß gefeiert. Was ist das? Was hat die Geste mit den "Grauen Wölfen" zu tun? Und wird Demiral jetzt gesperrt?

Über dieses Thema berichtet: BAYERN 3-Nachrichten am .

"Man of the match" – diese Auszeichnung erhielt der türkische Nationalspieler Merih Demiral vom europäischen Fußballverband Uefa nach dem Achtelfinale gegen Österreich. Aus sportlicher Sicht war das nachvollziehbar: Mit zwei Kopfballtoren hatte Demiral entscheidenden Anteil am Sieg seiner Mannschaft.

Diskutiert wird seit Dienstagabend in Deutschland aber nicht über die Sprungkraft des 26-Jährigen, sondern über seinen Jubel nach dem zweiten Tor. Demiral zeigte im Leipziger Stadion den sogenannten Wolfsgruß, Symbol der rechtsextremen "Grauen Wölfe". Was Sie dazu wissen müssen.

Was ist der Wolfsgruß?

Beim Wolfsgruß zeigen Zeigefinger und kleiner Finger nach oben, Mittel- und Ringfinger werden auf den Daumen gedrückt. Die Geste dürfte einigen hierzulande als "Schweigefuchs" bekannt sein, der in lauten Kindergartengruppen für Ruhe sorgen soll. In der Türkei und der türkischstämmigen Community ist der Wolfsgruß dagegen ein Erkennungssymbol der rechtsextremen "Grauen Wölfe".

Was hat es mit den Grauen Wölfen auf sich?

"Bozkurtlar" heißt auf Türkisch "Graue Wölfe". Umgangssprachlich gemeint ist damit die "Ülkücü"-Bewegung, die es seit Mitte des 20. Jahrhunderts gibt. Sie gilt als rechtsextrem, antisemitisch, rassistisch und homophob. Laut Bayerns Verfassungsschutz (externer Link) verfolgt die Bewegung "die Idee der Vereinigung aller Turkvölker in einem großtürkischen Reich unter Ausschluss aller nicht-türkischer Ethnien". Das Ziel ist laut Bundesverfassungsschutz "ein großtürkisches Reich vom Balkan bis nach China", weit über die aktuellen Grenzen der Türkei hinaus.

Anhänger der "Grauen Wölfe" halten das Türkentum für überlegen, besonders im Vergleich zu Armeniern, Griechen, Kurden und Juden. In der Türkei ist der politische Arm der Bewegung die Partei MHP. Sie ist seit 2018 Koalitionspartner der AKP, Partei von Staatschef Recep Tayyip Erdoğan. Seit Jahren holen die Rechtsextremen bei türkischen Parlamentswahlen mehr als zehn Prozent.

Welche Rolle spielen die "Grauen Wölfe" hierzulande?

Während sie in Frankreich verboten sind, werden die "Grauen Wölfe" in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet. Gut 12.000 Anhänger sollen der Szene hierzulande angehören, organisiert in insgesamt drei Verbänden. Dazu kommen laut den Sicherheitsbehörden knapp 2.000 Anhänger, die nicht zu einem der drei Verbände gehören. Dabei handelt es sich demnach vor allem um jüngere Männer, die in sozialen Netzwerken aktiv Hass gegen "Feinde des Türkentums" schüren und generell eine erhöhte Gewaltbereitschaft zeigen.

Der bayerische Verfassungsschutz schreibt auf seiner Webseite: "Die Anhängerschaft der Ülkücü-Bewegung ist zum Teil in sogenannten Kultur- und Idealisten-Vereinen wie der 'Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland' (ADÜTDF) organisiert." In Bayern werbe die Bewegung um neue Mitglieder bei kulturellen, religiösen und sportlichen Veranstaltungen. "Schwerpunkt sind die Ballungsräume München, Nürnberg und Augsburg."

Ist der Wolfsgruß verboten?

Auch wenn es seit Jahren entsprechende Forderungen gibt: In Deutschland ist der Wolfsgruß nicht verboten, trotz der Beobachtung der "Grauen Wölfe" durch den Verfassungsschutz. In Österreich ist das anders – dort ist der Wolfsgruß seit 2018 untersagt. Dabei geht es aber immer um den Einzelfall, ist auf der Webseite des österreichischen Parlaments zu lesen: "Um unbillige Vollzugshärten zu vermeiden, werden einschlägige Gesten allerdings nur dann strafbar sein, wenn damit das Ideengut der Gruppierung gutgeheißen oder propagiert wird."

Was sind die Reaktionen auf Demirals Wolfsgruß-Jubel?

Menschenrechtler in Deutschland kritisieren Demirals Jubel scharf und fordern Konsequenzen. "Seit Jahren bekomme ich von Anhängern der Grauen Wölfe, einer der größten rechtsextremen Gruppen in Deutschland, Morddrohungen. Dass Merih Demiral hier den rechtsextremen Wolfsgruß zeigt, ist eine Verhöhnung der Opfer", schreibt die Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal auf der Plattform X.

Ali Ertan Toprak von der Kurdischen Gemeinschaft in Deutschland fordert auf BR24-Anfrage "ein Verbot der Grauen Wölfe samt ihrer Folgeorganisationen und Erkennungszeichen wie dem Wolfsgruß". Die Grauen Wölfe seien "rassistisch, antisemitisch und demokratiefeindlich – und bedrohen die innere Sicherheit auch hierzulande". Der türkische Exiljournalist Can Dündar schreibt auf X: "Glückwunsch, Merih! Mit einem einzigen Zeichen hast du die 100-prozentige Freude auf 5 Prozent verringert."

Bereits vor dem Achtelfinalspiel forderte die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) von der Europäischen Fußball-Union, den Wolfsgruß in den Stadien nicht zu tolerieren und Stadionverbote zu verhängen. Ein Teil der Türkei-Fans habe den Gruß bei den vergangenen EM-Spielen gezeigt, teils live im Fernsehen übertragen, sagte GfbV-Nahostreferent Kamal Sido.

Und wie ist es in der Türkei?

In der Türkei sorgt Demirals Jubel kaum für Aufregung. Dort wird die Geste auch in weniger radikalen nationalistischen Kreisen gezeigt, 2017 etwa vom bekannten Oppositionspolitiker Kemal Kılıçdaroğlu oder im Wahlkampf von Staatspräsident Erdoğan.

"Das Zeigen des Wolfsgrußes ist verständlicherweise für jeden Demokraten eine große Aufregung", sagt Professor Burak Çopur auf BR24-Anfrage. Er leitet das Zentrum für Radikalisierungsforschung und Prävention der Internationalen Hochschule in Essen. Laut Çopur ist der Wolfsgruß in der Türkei aber inzwischen "leider gängiger Ausdruck der Zugehörigkeit zum mehrheitlich nationalistisch-islamischen Türken- und Sunnitentum. Damit sei der Gruß "Teil der Staatsideologie, so wie es damals der Hitlergruß in Deutschland war". Verstanden werde der Wolfsgruß auch als "Provokation und Statement der Verachtung von Juden und anderen Minderheiten".

Çopur warnt vor den Folgen – auch für die deutsche Gesellschaft. "Die Radikalisierung von türkischstämmigen Fußballern schreitet voran und wirkt sich desintegrierend gerade auf die jungen Deutsch-Türken aus. Für viele sind diese Fußballer Idole und Vorbilder." Die Uefa solle Demiral von der EM ausschließen – und die deutsche Politik Symbole und Vereine der "Grauen Wölfe" verbieten.

Was passierte beim Pogrom von Sivas am 2. Juli 1993?

Die Anhänger der "Grauen Wölfe" leugnen laut der Gesellschaft für bedrohte Völker den Völkermord an den Armeniern und anderen Christen im Osmanischen Reich im Jahr 1915. Viele Kurden, Armenier, Aramäer, Griechen, Christen, Aleviten, Yeziden und Juden würden deshalb mit dem Wolfsgruß eine lange Geschichte von Mord, Vertreibung und Unterdrückung verbinden.

Dass Demiral den Wolfsgruß ausgerechnet am 2. Juli zeigte, stößt vielen besonders bitter auf. Am 2. Juli 1993 hatte ein von religiösen Extremisten aufgehetzter islamistischer Mob in der Türkei ein Hotel im Stadtzentrum von Sivas in Brand gesteckt, in dem sich alevitische Schriftsteller, Sänger und Intellektuelle aufhielten. 37 Menschen wurden getötet, die meisten Opfer waren alevitischen Glaubens. Die Aleviten sind eine religiöse Minderheit in der mehrheitlich sunnitischen Türkei.

An dem Mob waren tausende Menschen beteiligt, die Polizei ließ sie Berichten zufolge gewähren. Laut Ali Ertan Toprak von der Kurdischen Gemeinschaft in Deutschland zeigten Anhänger der "Grauen Wölfe" auch damals den Wolfsgruß.

Was sagt der Spieler selbst?

"Wie ich gefeiert habe, hat etwas mit meiner türkischen Identität zu tun", sagte Demiral nach dem Spiel. "Wir sind alle Türken, ich bin sehr stolz darauf, Türke zu sein und das ist der Sinn dieser Geste." Es stecke keine versteckte Botschaft dahinter. "Ich habe Leute im Stadion gesehen, die diese Geste auch gemacht haben." Es werde hoffentlich noch mehr Gelegenheiten geben, diese Geste zu zeigen, betonte der 26-Jährige, der beim saudi-arabischen Club al-Ahli spielt.

Nach dem Spiel sagte Demiral auch: "Ne mutlu Türküm Diyene" ("Glücklich ist, wer sich Türke nennt") – eines der bekanntesten Zitate des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk.

Muss Demiral mit einer Sperre rechnen?

Die nächste Gelegenheit für Demiral ist – Stand jetzt – das EM-Viertelfinale, in dem die Türkei am Samstag in Berlin auf die Niederlande trifft. Ob der "Man of the match" des Achtelfinales wirklich spielen darf, ist bisher allerdings offen: Die Europäische Fußball-Union Uefa hat ein Untersuchungsverfahren gegen den türkischen Nationalspieler wegen dessen Wolfsgruß-Torjubels eingeleitet. Es gehe dabei um ein angebliches unangemessenes Verhalten des Spielers, teilte die Uefa am Mittwochvormittag mit.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) forderte die Uefa auf, Sanktionen zu prüfen. "Die Symbole türkischer Rechtsextremisten haben in unseren Stadien nichts zu suchen", schrieb Faeser auf der Plattform X. "Die Fußball-Europameisterschaft als Plattform für Rassismus zu nutzen, ist völlig inakzeptabel." Noch deutlicher äußerte sich Kurdenvertreter Toprak: "Demiral sollte sofort von der EM ausgeschlossen werden. Ansonsten verliert die Uefa ihre Glaubwürdigkeit vollends."

Mit Informationen von dpa, epd und SID

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