Vor zwei Jahren hat Russland seinen Überfall auf die Ukraine gestartet. Kurze Zeit sah es so aus, als würde Moskau den Krieg schnell gewinnen. Doch die ukrainische Armee schlug zurück. Eine Gegenoffensive im Herbst 2022 sorgte dafür, dass die Ukraine Teile des Landes zurückgewinnen konnte. Eine erneute Gegenoffensive vergangenes Jahr brachte dagegen kaum Gebietsgewinne. Derzeit besetzt die russische Armee rund ein Fünftel der Ukraine und hat mehrere Regionen völkerrechtswidrig zum eigenen Staatsgebiet erklärt.
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Die US-Vizepräsidentin beschrieb auf der Münchner Sicherheitskonferenz vergangenes Wochenende die Gemütslage vom Februar 2022. "Ich erinnere mich, als ich vor zwei Jahren auf dieser Bühne stand, kurz vor der russischen Invasion in der Ukraine." Viele hätten damals gedacht, dass Kiew binnen weniger Tage fallen würde. "Aber die Fähigkeiten und der Mut der Ukrainer, zusammen mit der Führung von Selenskyj und der 50 Länder starken Unterstützer-Koalition, die die USA anführt, haben der Ukraine geholfen, das zu schaffen, was viele für unmöglich hielten."
Der Krieg in der Ukraine tobt nun schon seit zwei Jahren. Ein Krieg, der auch "fundamentale Konsequenzen für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik" bedeutete, wie es Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik im BR-Interview beschreibt. Habe bis dahin gegolten, dass man Sicherheit in Europa nur mit Russland organisieren könne, müsse sie nun gegen Russland organisiert werden. Auch die Lieferung von Waffen in Kriegs- und Krisengebiete sei ein Novum gewesen. "Diese Beispiele illustrieren, dass diese früheren Leitlinien, Annahmen, Prämissen einfach hinfällig geworden sind", sagt Kaim.
So steht es um die militärische Lage
Der Krieg ist damit international wie national von großer Bedeutung. Und viele im Westen blicken aktuell mit Sorge auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine. "Seit November ist dieser Krieg in der Ukraine zu einem Stellungskrieg übergegangen, zu einem Abnutzungskrieg", erklärt Gerhard Mangott, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck im Gespräch mit BR24.
Jüngst ist die ukrainische Armee aus der Stadt Awdijiwka abgezogen. "Das verschiebt die Front nur leicht", erklärt Mangott, aber der Verlust habe vor allem symbolische Auswirkungen und könne sich auch auf die Kampfmoral der Truppe auswirken.
Karte: Die militärische Lage in der Ukraine
Die Ukraine habe ihr Vorgehen inzwischen geändert: "Sie will dieses Jahr die Strategie der sogenannten aktiven Verteidigung verfolgen, das heißt ihre Verteidigungsanlagen an der Frontlinie ausbauen, um weitere russische Vorstöße zu verhindern." Ob das gelingt, sei unsicher, so Mangott, derzeit sei die russische Armee auf dem Vormarsch.
Für den Militärexperten ist auf jeden Fall klar: "Ohne massive westliche militärische Hilfe wird dieses kleinere Ziel der Ukraine, die Frontlinie zu halten, nicht erreichbar sein." Viele Ukraine-Unterstützer blicken deswegen gespannt auf das 60-Milliarden-Hilfspaket der USA, das gegenwärtig im Kongress festhängt. Diese Hilfe wäre von "großer Bedeutung", sagt Mangott. Europa könne ausfallende US-Hilfe nicht kompensieren, aus finanziellen Gründen nicht, aber auch aus rüstungsindustriellen Gründen nicht. "Die Hilfe aus den USA ist unabdingbar", fasst Mangott von der Uni Innsbruck zusammen.
Wie könnte sich das Kriegsgeschehen unter diesen Umständen verändern? Welche Szenarien gibt es für ein Kriegsende? Vier Möglichkeiten:
Szenario 1: Die Ukraine gewinnt den Krieg
Möglichkeit eins würde bedeuten, dass der Krieg auf dem Schlachtfeld entschieden wird. In diesem Fall würde die Ukraine die russischen Truppen von ihrem Territorium vertreiben und sowohl die Ost-Ukraine als auch die Krim zurückerobern. "Es würde voraussetzen, dass der Westen die Ukraine in seiner Gesamtheit massiv militärisch unterstützt, gewissermaßen mit allem, was er hat – und das auf mehrere Jahre hinaus", sagt Gerhard Mangott.
Es ist das vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ausgegebene Ziel. Im Westen heißt es überwiegend, dass die Ukraine den Krieg gewinnen müsse. Bundeskanzler Scholz sprach lange etwas vorsichtiger davon, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren dürfe. Was das aber konkret für die ukrainischen Territorien bedeutet, da hielt man sich mit Bewertungen in den westlichen Hauptstädten meist zurück.
Dass es zu einem Sieg der Ukraine kommt, wie Selenskyj und die Führung in Kiew sich ihn vorstellen, hält Mangott für "nicht sehr wahrscheinlich", da es die militärische Unterstützung aus dem Westen, die es dafür brauche, nicht geben werde.
Szenario 2: Russland gewinnt den Krieg
Auch Szenario zwei wäre ein Sieg auf dem Schlachtfeld – in diesem Fall ein russischer. Moskaus Truppen würden weiter Richtung Westen vordringen und Odessa und die Hauptstadt Kiew einnehmen. Das nannte jüngst der frühere Präsident Dmitri Medwedew als Kriegsziel. "Wo sollen wir aufhören? Ich weiß es nicht", sagte der stellvertretende Vorsitzender des russischen Sicherheitsrates gegenüber russischen Medien am Donnerstag. "Wird es Kiew sein? Ja, wahrscheinlich sollte es Kiew sein. Wenn nicht jetzt, dann nach einiger Zeit, vielleicht in einer anderen Phase der Entwicklung dieses Konflikts."
Auch diesen Fall hält Experte Mangott für nicht sehr wahrscheinlich. "Dafür müsste die westliche Militär- und Finanzhilfe vollkommen austrocknen." Auf der Sicherheitskonferenz unterstrichen zuletzt alle Partner der Ukraine, dass man weiter militärische Hilfe leisten werde. Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte in München: "Unsere Unterstützung ist breit und umfangreich, vor allem aber ist sie langfristig angelegt."
Scholz skizzierte dabei auch, was ein russischer Sieg bedeuten würde: "das Ende der Ukraine als freier, unabhängiger und demokratischer Staat, die Zerstörung unserer europäischen Friedensordnung, Ermutigung, die schwerste Erschütterung der UN-Charta seit 1945 und nicht zuletzt die Ermutigung an alle Autokraten weltweit, bei der Lösung von Konflikten auf Gewalt zu setzen." Der politische und finanzielle Preis, den man dann zu zahlen hätte, wäre um ein Vielfaches höher als alle Kosten der Unterstützung der Ukraine heute und in Zukunft.
Ob Russland die militärischen Möglichkeiten hat, die Ukraine vollständig zu besiegen, da haben Experten ebenfalls ihre Zweifel. Der Politologe Nico Lange vom Team der Münchner Sicherheitskonferenz bezeichnete die militärische Macht Russlands gegenüber "ZDF heute" als einen "Mythos": "Russland hätte unendlich viele Soldaten, und am Ende sind die viel stärker, und die Ukraine kann nicht gewinnen - ich glaube, das ist mittlerweile aber auch ausreichend widerlegt."
Lange erklärte weiter: "Die entscheidende Frage wird sein, wenn Russland jetzt in dieser Weise die Angriffe fortsetzt, also im Grunde unter vollständiger Zerstörung von Städten ganz langsam vorrückt: Wann kommt der russische Angriff zum Erliegen? Wann sind die russischen Ressourcen für diese Angriffe aufgebraucht? Und dann kommt es zu einem Halt oder möglicherweise auch dazu, dass die Ukraine wieder die Initiative übernehmen kann."
Szenario 3: Friedensverhandlungen
Dass die Ukraine und Russland direkt verhandeln, hält Gerhard Mangott gegenwärtig für ausgeschlossen. Er erinnert an das Getreideabkommen, das auch nur durch Vermittlung der Türkei und der Vereinten Nationen zustande kam.
Für Verhandlungen müsste laut Mangott eine dritte Partei intervenieren und beide Kriegsparteien an einen Tisch bringen. Es hatten sich in der Vergangenheit einige Staaten als Vermittler angeboten – Mangott nennt Brasilien, China und Südafrika als Beispiele. Er ergänzt aber: "So wichtig das auch ist, dass diese Länder die Gesprächskanäle offen halten – auch nach Russland – so sehr muss man sagen: Im Augenblick haben auch die besten Vermittlungsbemühungen keine Chance." Der Grund: Beide Kriegsparteien würden immer noch daran glauben, den Konflikt militärisch gewinnen zu können und daher nicht bereit sein, zum jetzigen Zeitpunkt Verhandlungskompromisse zu akzeptieren.
Szenario 4: Der Konflikt wird eingefroren
"In dieser Variante sind die Streitkräfte beider Seiten irgendwann militärisch so erschöpft, dass sie - anders als jetzt - keine Gewinne mehr auf dem Schlachtfeld erwarten", erklärt Gerhard Mangott im BR24-Interview. Dann könne sich der politische Wille durchsetzen, zumindest über eine Waffenruhe zu verhandeln. Die Ukraine sei davon zwar noch weit entfernt, eine solche Entwicklung zu akzeptieren, dennoch hält Mangott dies für das wahrscheinlichste Szenario.
Es hätte laut Mangott einige Haken: "Es würde den Aggressor belohnen: Russland würde dann auf unbestimmte Zeit zwar nicht die de jure, aber de facto die Kontrolle über das Gebiet halten." Es wäre zusätzlich ein Glaubwürdigkeitsverlust für den Westen. Und: "Russland könnte eine Waffenruhe dazu nutzen, sich zu regruppieren, neu auszustatten mit Personal und Waffen, um dann in späterer Zeit erneut ukrainisches Territorium anzugreifen."
Um das zu verhindern, hätte der Westen die Aufgabe, "die Ukraine militärisch und wirtschaftlich so hochzurüsten, dass sie genügend große Abschreckungskraft entwickelt", erklärt Mangott.
Wie geht es nun weiter?
"Russland rekrutiert jeden Tag weitere Soldaten, und für diese Art der Kriegsführung braucht man leider, glaube ich, auch keine besonders gut ausgebildeten Kräfte", sagte Nico Lange von der Münchner Sicherheitskonferenz gegenüber "ZDF heute". "Man muss leider davon ausgehen, dass wir im Osten der Ukraine zumindest für die nächsten Wochen, möglicherweise Monate, so eine Serie aus schlechten Nachrichten werden erleben müssen."
Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck hält den Ausgang der Verhandlungen im US-Kongress um das Ukraine-Hilfspaket für entscheidend. Komme keine oder nur wenig Hilfe, sei es wahrscheinlich, dass Russland an weiteren Frontabschnitten vorrücken könne. Sollte Donald Trump erneut Präsident werden, dürfte es nochmals schwieriger für Kiew werden.
Sollten die Hilfen aus den USA zeitnah kommen, könnte die Ukraine die Frontlinie verteidigen, glaubt Mangott. "Die Optimisten erwarten, dass die Ukraine nächstes Jahr in eine Lage kommen könnte, eine neue Offensive zu versuchen". Mangott erinnert aber auch an die Gegenoffensive aus dem vergangenen Jahr, in die man große Hoffnungen gesetzt habe – und die größtenteils scheiterte. Ob sich das 2025 ändert, hält Mangott für fraglich. Bis eines der Szenarien, die ein Kriegsende bedeuten würden, eintritt, dürfte in jedem Fall noch einige Zeit vergehen.
Video: Ukraine zieht sich aus Awdijiwka zurück
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