Für das Projekt in Kooperation mit den Münchner Kammerspielen sprach Gregor Schneider mit unheilbar kranken Menschen über das Sterben und den Tod, aber auch über ihre persönlichen Lieblingsorte in der Münchner Innenstadt. An diesen Orten könne man diesen Menschen demnächst in einer App begegnen – und viel von Ihnen lernen, sagt Gregor Schneider.
"Wir spielen auf Zeit und nicht auf Sieg"
Vor einem Jahr hat der Künstler Gregor Schneider begonnen, sterbende Menschen für sein Projekt Ars Moriendi einzuladen und zu interviewen, um sie in der virtuellen Realität des Münchner Stadtraums zu verewigen. Eine Frau erzählt zum Beispiel: "Heilung gibt es bei mir nicht. Wir spielen auf Zeit und nicht auf Sieg." Ein Mann sagt: "Ich wünsche mir weiterhin die Intensität. Ich bezahle jeden guten Tag mit zehn schweren. Aber jeder Tag ist es mir wert." Eine Frau blickt mit Humor zurück auf ihr Leben: "Komischerweise bedaure ich nichts. Nicht einmal die falsche Gattenwahl, hihi."
Sterbende im Öffentlichen Raum
Das Schwere und das Leichte liegen oft nah beieinander. Vor allem am Lebensende. Diesen Menschen, die so über ihren nahenden Tod sprechen, begegnen wir am Münchner Stachus, vor der Oper oder auf einer Parkbank im Stadtteil Neuhausen. Natürlich begegnen wir nicht ihnen selbst, sondern mittels einer Smartphone-App ihren digitalen dreidimensionalen Abbildern.
"Den Toten verorten wir auf dem Friedhof, die Sterbenden im Hospiz", erklärt Gregor Schneider sein Konzept. Dagegen platziere das Projekt Ars Moriendi die Sterbenden und Toten in den öffentlichen Raum, in die Mitte der Stadtgesellschaft. "Und die Sterbenden haben uns sehr viel zu sagen, wir können sehr viel von den Sterbenden lernen."
Ein erster Kuss, die erste Arbeitsstelle, eine Erinnerung ans Pralinennaschen
Da ist zum Beispiel die 92-Jährige, die Schneider beim Gespräch empfahl, bei technischen Neuerungen wie Smartphones immer am Ball zu bleiben, man dürfe sich der Welt schließlich nicht verschließen. Schneider fragte die Beteiligten zunächst nach dem Beweggrund, sich an einem speziellen Münchner Ort digital verewigen zu lassen. Ein erster Kuss, die erste Arbeitsstelle bei Gericht - oder die Erinnerung an gemeinsames Pralinennaschen mit dem Ehemann.
"Mein Mann war nicht nur ein Münchner, er war ein Schwabinger", sagt eine Frau. Er habe München geliebt und wenn er in Pasing war, habe er schon Heimweh gehabt. Sie sei mit ihm öfter zu Dallmayer gegangen, um schöne Leckereien zu kaufen, was "ganz toll" gewesen sei.
Claudia Bausewein, Palliativmedizinerin
An der Diskussionsrunde zur Vorstellung des Projekts Ars Moriendi nahm auch die Münchner Palliativmedizinerin Claudia Bausewein teil. Wie ändert sich der Blick auf das Leben, wenn klar wird, dass man sich – manchmal plötzlich, manchmal lange angekündigt – konkret mit dem Tod auseinandersetzen muss? Die Menschen, die sich bei Projekt-Künstler Gregor Schneider meldeten, verbindet der Wunsch, das Leben bis zum Ende zu gestalten:
"Tägliche Dankbarkeit, nur noch der Augenblick"
Es seien Menschen, sagt Schneider, die sich sehr bewusst schon mit dem Sterben, dem Tod, auseinander gesetzt haben, Menschen, die "sehr aktiv, selbstbestimmt" leben wollen. Es verändert sich, sagt eine Frau, dass man "eine tägliche Dankbarkeit empfindet, dass es halt heute noch nicht so weit ist."
"Für mich das Wichtige im Leben", ergänzt ein Mann, "ist im Moment nur noch der Augenblick. Vor acht Wochen dachte nicht nur ich, dass es zu Ende geht." Leute seien gekommen, um sich von ihm zu verabschieden. Jetzt zum vergangenen Wochenende feiere er seinen 60. Geburtstag. "Da sah ich Leute wieder, die dachten, wir hätten uns vor acht Wochen im Krankenhaus zum letzten Mal gesehen."
Gefühle von Angst, Wut, Scham, Kontrollverlust
Es sind bewegende Zeitzeugnisse, von Menschen, die intime Einblicke gewähren, in ihre Gefühle der Angst, Wut, Scham und des Kontrollverlusts. Gleichzeitig, sagt Schneider, spürte er in allen Gesprächen vor allem eine große Dankbarkeit für das Leben und seine Lehren.
Es zähle nicht, "was bekomme ich", sagt eine Frau, "oder was kriege ich", sondern es zähle, "was kann ich geben oder verschenken." Eine andere sagt: "Also für mich fängt es mit einem Lächeln an, wenn ich auf die Straße gehe, zum Beispiel Richtung U-Bahn, versuche ich die entgegenlaufenden Menschen, freundlich anzulächeln." Manchmal schaffe sie es von sieben oder acht, zwei zum Lächeln zu bringen.
Der Unausweichlichkeit etwas entgegensetzen
Das Projekt ist auf mehrere Jahre angelegt, es sollen weiter Menschen dazu kommen – die öffentlich zugängliche Enzyklopädie des Sterblichen soll weiter wachsen. Es ist nichts Unethisches, nichts Voyeuristisches dabei – es ist der empathische und zutiefst humanistische Versuch, der Unausweichlichkeit, der unverfügbaren Erfahrung des Todes, wie Schneider sagt – etwas entgegenzusetzen.
"Wenn ich an das Vorhaben denke, denke ich an große Gefühle, überwältigende Empfindungen, und das ist auch glaube ich das, was uns der Sterbende zeigen kann. Was das Menschsein ausmascht, es ist letztendlich ein Gestaltungsauftrag an jeden Einzelnen, jeder ist auch ein Betroffener."
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