Genau 15 Sekunden sind es, die uns "Baum" im Dunkeln lässt, doch dann herrscht Klarheit und er ist da, der Kleber, der jedes noch so bunte Mine Album zusammenhält: ihre fantastische Stimme. Einst hat Mine Jazzgesang studiert in Mainz und von Album zu Album konnte man ihr dabei zuhören, wie sie immer selbstbewusster und souveräner mit ihrem Können umgeht.
Bis hin zu "Baum", bei dem sie nun sowohl stimmlich als auch kreativ aus sich herauswächst. Passend übrigens auch zum Album-Cover, auf dem Mines Kopf ein gewaltiges Geäst ziert: "Für mich war das irgendwie gefühlt ein Abschluss der letzten drei Alben", erzählt die Sängerin, "also auch was die Lebensphasen angeht, reiht sich das so schön ein: Bei Klebstoff hatte ich das Gefühl, alles bleibt an einem haften, und bei Hinüber ist alles so ein bisschen abgefallen und verrottet und jetzt bei Baum wächst quasi was Neues raus."
Frische Triebe im Album "Baum"
Kunterbunt und musikalisch extrem vielfältig sind diese neuen Triebe: Spärlich instrumentierte Balladen treffen auf üppig orchestrierten Kammerpop, Knabenchöre singen Intros, werden von bouncigen Diss-Tracks abgelöst und dazwischen gibt es zeitgeistigen Hyperpop mit Knicks vor den 90ern.
Mine schreibt, arrangiert und produziert seit jeher ihre Songs selbst, aber teilt sich seit jeher auch gern das Spotlight mit diversen Feature-Gästen. Auf "Baum" sind das zwar wieder höchst interessante Künstler wie Leonie Pernet oder Mauli, nur: Müsste man an "Baum" was kritisieren, dann: Was sollen diese Features eigentlich an Mine allein verbessern?
Wäre es nicht zu ausgelutscht, müsste man spätestens beim Refrain von "Alles gut" von ganz viel Gänsehaut sprechen. Wenn Mine mit soviel Druck und so emotional singt wie noch nie. "Es gibt ganz witzige Videos von Leuten, die auch im Studio sind, weil die mich da durch die Glasscheibe gefilmt haben, wie ich mich da krümme und versuche ins Mikrophon reinzuschreien, weil ich wollte diese Art von Sound, dieses Wehmütige, Schreiende, Klirrende, auch Anstrengende… aber halt so völlige Emotion", erzählt Mine. "Ich musste während dem Einsingen super viel üben, weil ich mir erstmal gedacht hab, wie mach ich das überhaupt?! "
Ein wildes Gänsehaut-Album
Auch textlich ist das, was da aus Mines kreativen Synapsen heraussprießt, eine wirklich wilde Mischung: Mal geht es um miese Beziehungs-Momentaufnahmen, dann um Selbstfindung, plötzlich wird kurz über die eigene Freshness geflext oder ein nicht genauer genannter Musiker-Kollege abgewatscht - um dann auf einmal so konkret und privat zu werden wie noch nie: Mine verarbeitet den Tod ihrer Mutter und erwähnt im selben Song, dass sie nun selbst Kinder hat. Und später wird sie auch noch von Selbstmordgedanken singen.
Sehr nah lässt sie einen als Hörer da ran, aber niemals kippt Mines Offenheit ins Kitschige. Stattdessen präsentiert sich da eine selbstbewusste Künstlerin mit Tiefgang, Spielfreude und extrem viel Style, die den bisschen streberhaften Appeal ihrer Anfänge sehr weit hinter sich gelassen hat: "Als ich angefangen hab das erste Album zu machen, ich hatte wirklich überhaupt kein Selbstbewusstsein. Und es war damals ja auch eine ganz andere Zeit als Frau in der Musikindustrie, weil man häufig auf sein Äußeres reduziert wird, das ist ja einfach so. Ich glaub früher hätt ich mir gewisse Dinge auch zu Recht nicht zugetraut. Inzwischen hab ich mehr das Gefühl, dass ich meine Vision, wenn ich die umsetze, auch gut finde."
Einiges hat sich getan im deutschen Pop, seit Mine vor zehn Jahren ihr Debüt rausgebracht hat. Und insgeheim weiß sie sicher, wieviel sie selbst zu den besten Veränderungen beigetragen hat. Ein einziger Schatten aber macht sich doch breit, so beim Hören der 15 Lieder auf "Baum": Dass Mine und ihr Talent irgendwann aus dem deutschen Pop-Wald herauswachsen.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!