Immer Freitagsnachmittags beginnt die Zitterpartie für den Kreml-kritischen Teil russischer Journalisten. Da erscheinen auf der Website des russischen Justizministeriums nämlich die Namen der neuen sogenannten "Ausländischen Agenten und der in Russland unerwünschten Organisationen". Sind wir diese Woche dran, nächste oder übernächste?
In vielen Fällen ist das nur noch eine Frage der Zeit. Die meisten russischen Regimekritiker, oppositionellen Journalisten und investigativen Medien haben Russland ohnehin seit Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine verlassen.
Der Unerwünscht-Stempel
Im Juni hat die Brandmarkung erstmals auch ein deutsches Medium getroffen. Die online-Plattform "Dekoder" [externer Link] ist in Russland nicht mehr erwünscht, wie es heißt. Einen konkreten Anlass gab es nicht – kein Skandal, keine Wie-Du-mir-so-ich-Dir-Aktion. Der Unerwünscht-Stempel ist bei der Generalstaatsanwaltschaft in Moskau willkürlich auf Dekoder niedergedonnert.
"Früher hat es auch schon andere Organisationen getroffen, sehr angesehene Forschungseinrichtungen, wie zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde oder das Zentrum für Osteuropa und internationale Studien, also Wissenschaftsinstitutionen, die in Deutschland oder international zu mehr Wissen über Russland beitragen", sagt Julian Hans von Dekoder. Die Plattform befindet sich mit dieser Stigmatisierung also in bester Gesellschaft.
Investigative Profis für Russen ein Risiko
Ein Risiko für die russische Gesellschaft stellen aus Sicht des Justizministeriums vor allem professionelle und investigative Journalisten dar, eben all jene, die sich der Kreml-Propaganda entziehen. Die Methode der Ausgrenzung ist einfach: Die Behörden unterstellen einzelnen Journalisten, Medien oder Organisationen, dass sie vom Ausland bezahlt werden, um sich in die russische Innenpolitik einzumischen. Eine Attacke auf Russlands Souveränität. Bei der Erklärung von Dekoder zur "unerwünschten Organisation" zielt die Brandmarkung auch vor allem auf Mitarbeiter, die noch in Russland sind.
"Das sind Autorinnen und Autoren, Illustratorinnen und Illustratoren, Fotografinnen und Fotografen, viele Menschen, die an den Medienproduktionen beteiligt sind, die wir eigentlich nur übernommen haben. Wo wir aber jetzt diese Medien alle angeschrieben haben und gesagt haben, wenn das irgendjemanden in Gefahr bringt, dann bitte sagt uns Bescheid", so Julian Hans.
Dekoder habe auch mehr als ein Dutzend Texte aus dem Netz genommen, auf Wunsch der Autorinnen oder Autoren oder Menschen, die daran mitgearbeitet haben. Sie hätten auch einige Materialien anonymisiert, weil diese Menschen, die entweder noch in Russland leben oder häufiger dort hinreisen, dort keine Strafen riskieren möchten. Die Mehrzahl der Medien, mit denen sie zusammenarbeiten, seien inzwischen selbst im Exil, und von denen seien auch Solidaritätsbekundungen gekommen nach dem Motto: "Willkommen im Club". Obwohl es in der Praxis natürlich dann doch niemanden wirklich freue – und die Arbeit einfach auch erschwert.
Dekoder: der Name ist Programm
Dekoder ist 2015, ein Jahr nach Annexion der Krim, gegründet worden. Der Name ist Programm, Russland soll dekodiert, also entschlüsselt werden. Die russischsprachige Version ging 2019 online und hat das Motto читая Европу - "Europa lesen". Ins Deutsche übersetzt werden Beiträge aus unabhängigen russischen Medien wie Republic, Projekt oder der Nowaja gazeta, Dazu Stimmen von russischen Intellektuellen und Wissenschaftlern. Seit 2020 werden in dieser Verschränkung von Journalismus und Wissenschaft auch die Debatten in Belarus abgebildet und europäische Diskussionen ins Belarussische übertragen.
Hochkonjunktur hat Dekoder seit Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar 2022. Auch das mag die Behörden in Russland dazu bewogen haben, der Online-Plattform die Arbeit möglichst schwer zu machen. Julian Hans skizziert, was Journalisten erwartet, wenn sie weiter für Dekoder arbeiten.
Was verdächtigen Journalisten blüht
Zunächst würden nur Bußgelder angedroht, erst einmal gar nicht so hoch: Es beginne bei 5.000 Rubel, aber im Wiederholungsfall wird es sehr schnell sehr viel mehr. Und dann müsse man, so Julian Hans, sich die Praxis angucken: "Da sehen wir, dass es schon als Wiederholungsfall ausgelegt wird, wenn eine Autorin oder ein Autor früher mehrere Texte veröffentlicht hat. Obwohl in einem Rechtsstaat eigentlich das Prinzip gilt, dass Gesetze nicht rückwirkend gelten dürfen. Es wird als dauerhafter Verstoß angesehen, wenn ein Text, den eine Autorin oder ein Autor vielleicht vor sieben Jahren geschrieben hat, heute noch unter ihrem oder seinen Namen auf unserer Webseite steht."
Willkür und Einschüchterung: Je nach Bedarf werden Gesetze mal so, mal so ausgelegt. Verhindert werden sollen in jedem Fall: Die Wahrheit und Stimmenvielfalt.
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