Die Szene könnte von Samuel Beckett stammen, allerdings wartet man hier nicht auf Godot, sondern auf mögliche Temposünder. An einer verwaisten Landstraße auf dem platten Land stehen zwei Polizisten mit ihrer Radarpistole inmitten flirrender Sommerhitze. Birgit Minichmayr als Andrea und Thomas Schubert als ihr junger Kollege Georg unterhalten sich über seinen kommenden Geburtstag. Ein Traktor tuckert in Schrittgeschwindigkeit vorbei. Andrea hebt leicht die linke Hand zum Gruß. Dann hört man aus der Ferne, dass da einer ziemlich flott unterwegs ist. Über 130 km/h hat der Temposünder auf dem Tacho. "70 Euro", stellt die Polizistin lakonisch fest. Verhandelt wird nicht.
Hader inszeniert einen Dorf-Western
Andrea, Mitte vierzig, ist gnadenlos. Egal ob Nachbarn oder Bekannte – Verkehrssünder müssen zahlen. Die Polizistin sorgt für Recht und Ordnung in ihrem Dorf. Doch jetzt will sie weg. Auch, weil es mit ihrem Ehemann Andy schlecht läuft. Wie der Filmtitel schon sagt: "Andrea lässt sich scheiden".
Während des Geburtstages von Georg versucht Andy Andrea zu überreden, bei ihm zu bleiben. Vergeblich. Später, auf der Heimfahrt von der Geburtstagsfeier, auf der dunklen Landstraße, läuft der sturzbetrunkene Noch-Ehemann seiner Frau vors Auto. Im Schock begeht sie Fahrerflucht – was eine schicksalshafte Kettenreaktion auslöst.
Der in Oberösterreich geborene Josef Hader inszeniert mit lakonischem Humor eine Art niederösterreichischen Western. Die Entscheidung für die Region habe viel mit der Landschaft zu tun gehabt, sagt er. Eine karge Gegend ohne Wälder und Hügel und mit weitem Horizont. Hader fängt sie in langen Einstellungen ein. Die Farben wirken wie vom Sommerlicht fast schon ausgeblichen, eine blendende Helligkeit liegt über vielen Szenen.
Schuld und Sühne in Niederösterreich
Birgit Minichmayr als Andrea ist so etwas wie der weibliche Lonesome Cowboy dieser existentiellen Geschichte. Josef Hader spielt Franz, einen altlinken, kurz vor der Pension stehenden Religionslehrer, der glaubt, er habe Andy überfahren, nicht wissend, dass der bereits tot auf der Landstraße lag. Bald verliert er seinen Job, beginnt er wieder zu trinken und trifft Andrea, die voller Schuldbewusstsein anfängt, sich um ihn zu kümmern.
Josef Hader ist mit seinem zweiten Spielfilm eine archaische Provinzfarce gelungen – eine sehenswerte Mischung aus verpasstem Glück, atmosphärisch stimmiger Analyse einer Dorfgesellschaft und patriarchalem Abgesang. Das bitterböse Schuld-und-Sühne-Drama mit wunderbar pointierten Dialogen zeigt sich gegen Ende überraschend versöhnlich. Entlang der einsamen Landstraßen keimt die Hoffnung auf ein vielleicht doch besseres Leben.
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