Am 4. September 1949 mischte die Berliner Imbissbudenbesitzerin Herta Heuwer erstmals Tomatenmark mit Worcestershiresauce und Currypulver und kippte es über eine Brühwurst. Und das mehr aus der Verlegenheit heraus. Sie hatte nämlich keinen Senf mehr, besagt die Legende. Die Currywurst ist also so etwas wie ein aus der Nachkriegsnot geborenes Zufallsprodukt – aus dem längst ein ikonisches Gericht wurde.
BR24: Tim Raue, Sie sind – wie die Currywurst – ein echter Berliner. Außerdem gelten Sie als einer der besten Köche Deutschlands, wenn nicht der Welt, haben zwei Sterne im Guide Michelin, 19,5 Punkte im Gault Millau, Ihr Restaurant in Kreuzberg landet seit Jahren auf der Liste der fünfzig besten Restaurants. Wer also könnte besser geeignet sein, um über Imbissküche zu sprechen?
Tim Raue: Ja, dieses deutsche und charmante Wort 'Imbiss' ist ja eigentlich nichts anderes als Streetfood. Es wirkt dadurch much more sexy für die jungen Menschen, die sich in den letzten fünf, sechs Jahren angewöhnt haben, um die Welt zu reisen, um eben genau solche Gerichte zu essen.
Der ewige Konflikt um den Darm
BR24: Ist denn Currywurst gleich Currywurst?
Tim Raue: Nein, es gibt völlig unterschiedliche Zugänge. In Berlin gilt immer noch den Konflikt: mit oder ohne Darm. Ich bin ein großer ohne-Darm-Fan, und dann gehört für mich dazu eine tomatige Soße. Wir machen das mit braunem Rohrzucker, Fischsauce, ein bisschen Chilipulver. Dazu kommt noch eine zweite Soße, auf Basis von Apfelessig, bisschen Sojasauce, ein paar Gewürze, über die ich jetzt nicht sprechen möchte, unter anderem Chili und rohe Zwiebeln. Dann nimmt man diese geröstete, darmlose Currywurst, die außen so einen Biss hat. Darüber die süße und fruchtige Tomatensoße, dann die scharfe, saure Soße, und dann – ganz wichtig – obendrauf das Currypulver. Da schmeckst du mit jedem Bissen eine Vielschichtigkeit; das Schwein, das Fett, die Gewürze, die Süße, das Salzige, die – wie man heute so schön sagt – Umami-Tiefe des Ganzen. Dann weißt du, warum das ein all time und all favorite classic ist.
Im Audio: Gespräch mit Sternekoch Tim Raue
Ein Klassiker – und gleichzeitig Fusion-Küche
BR24: Auch für den Sternekoch Tim Raue?
Tim Raue: Ich liebe sie ja am allermeisten nach einem sehr langen Arbeitstag, so um Mitternacht rum, dann hat sie einfach eine wärmende, animierende, wunderbar ins Bett oder in den Club bringende Wirkung.
BR24: Im Prinzip markiert doch die Currywurst auch so etwas wie die Erfindung der Fusion-Küche. Englische Worcestershiresauce, indisches Currypulver, dazu eine deutsche Brühwurst. Das ist Ihnen ja sowieso nahe als Koch, so arbeiten Sie ja.
Tim Raue: Ich finde, dass das Multikulturelle im Kulinarischen etwas zeigt. Gerade jetzt, wo in Deutschland das Politische ins extreme Rechte und extreme Linke tendiert. Nämlich, wie wichtig es ist, unterschiedliche Kulturen zusammenzulegen. Wenn Extremisten eine Currywurst essen, sollen sie auch wissen, dass da viele Kontinente und Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen auf einem Teller, auf einem Löffel vereint sind. Und dass das sehr gut sein kann.
Industrieprodukt als Körperverletzung
BR24: Sie haben aber auch schonmal gesagt, die Currywurst sei Körperverletzung.
Tim Raue: In dem Fall ging es darum, was industrielle Lebensmittel mit uns machen. Wenn du eine Currywurst für 20 Cent aus dem Froster kaufst, dann ist das ein reines Industrieprodukt, und das ist Körperverletzung. Nichts an dieser Wurst ist gut für dich.
BR24: Könnten Sie sich denn vorstellen, die Currywurst derart zu verfeinern, dass Sie sie auch in Ihrem Sterne-Lokal servieren können? Also so, wie Sie es zum Beispiel mit den Königsberger Klopsen getan haben?
Tim Raue: Die Königsberger Klopse sind ein richtiges Gericht. Die Currywurst ist für mich Streetfood. Die möchte ich so essen, dass sie einfach als Currywurst funktioniert, auch nicht mit Pommes! Ich finde, die lenken zu viel ab. Lieber mit einem Brötchen oder – wie wir Berliner sagen – mit einer Schrippe, wo du halt die ganze Soße richtig schön aufstippen kannst.
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