Porträt des Präsidenten vor russischer Flagge
Bildrechte: Michail Klimentjew/Picture Alliance

Wladimir Putin beim virtuellen Treffen mit dem russischen Menschenrechtsrat

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"Ein wenig surreal": Putin beklagt Fehlen von Menschenrechten

Bei einem Treffen mit dem russischen Rat für Menschenrechte warnte der Präsident vor Massenunterdrückung wie zu Sowjetzeiten und Gefängnis-Folter. Gleichzeitig forderte er, den Krieg zu unterstützen. Kritiker sprechen von "angepasster Rhetorik".

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Die Tonlage einer Veranstaltung wird durch ihr Format bestimmt", so ein russischer Polit-Blogger mit 56.000 Fans, und gemessen daran sei Putin ein Meister der "angepassten Rhetorik". Andere werden es wohl eher als drastische Heuchelei, konsequente Realitätsverweigerung oder krassen Opportunismus bezeichnen, was der Blogger so ausdrückt: "Was sich an ein internes Publikum richtet, eignet sich oft nicht für Auftritte vor externen Zuhörern. Diese unterschiedliche Herangehensweise gab es schon immer, doch heute sind diese Nuancen besonders ausgeprägt und hängen sowohl mit der schwierigen Situation als auch mit den Aufgaben der aktuellen politischen Tagesordnung zusammen." Folglich habe Putin bei einem virtuellen Treffen mit dem russischen Rat für Menschenrechte "Tauwetter-Signale" gesendet, die rein taktisch zu deuten seien. Auch bei einem Treffen mit in Moskau akkreditierten Diplomaten hatte sich der Präsident vergleichsweise konziliant gegeben.

"Putin hat sich zum Außenseiter entwickelt"

Publizist Anatoli Nesmijan sprach von "ein wenig surrealen" Auftritten Putins, schließlich existierten die Menschenrechte und Russland in "Paralleluniversen". Von Bürgerrechten habe der Präsident allenfalls noch "ein Stummelschwänzchen" übrig gelassen: "Putin hat sich zu einem internationalen Außenseiter entwickelt, dessen Kommunikation nicht nur ein Zeichen schlechten Geschmacks ist, sondern auch menschlich unangenehm wird. Lediglich der Status Russlands zwingt viele Länder dazu, diese Kommunikation nicht vollständig abzubrechen, sie versuchen aber immerhin, diese Kommunikation nach Möglichkeit auf ein Minimum zu beschränken."

Putin: "Hässliche Phänomene identifizieren"

Nach der Bemerkung eines Menschenrechts-Aktivisten zur Erinnerung an die Opfer politischer Verfolgung in der Sowjetunion hatte Putin geantwortet, damals seien echte und vermeintliche Gegner des Regimes "völlig zufällig" festgenommen worden: "Für uns ist es wichtig, dass sich so etwas in der Geschichte unseres Landes nicht wiederholt, denn all das hat in seiner Gesamtheit enormen, schwer wiedergutzumachenden Schaden für unser Volk und unseren Staat verursacht. Und das Fehlen von Rechten an sich, wenn über das Schicksal der Menschen entschieden wird, ist inakzeptabel, wenn wir wollen, dass das Land eine Zukunft hat – darauf kommt es an."

Im Übrigen sagte Putin, so "unangenehm" es auch sei, über Folter in russischen Haftanstalten zu sprechen, die Beschäftigung mit dem Thema sei aus seiner Sicht "notwendig": "Natürlich müssen wir die Situation in diesem Bereich zweifelsfrei weiterhin beobachten und solche hässlichen Phänomene, falls sie in unserem Strafvollzugssystem und allgemein bei der Tätigkeit der Strafverfolgungs- und Sonderbehörden auftreten, identifizieren. Man muss sie unbedingt im Auge behalten." Der Präsident hielt es auch für "nicht hinnehmbar", dass gegen Verdächtige "jahrelang ermittelt" werde: "Ich werde jetzt nicht ins Detail gehen; wir können bis zum Morgengrauen über dieses Thema reden."

"Lange Haftdauer grundsätzlich inakzeptabel"

In der in Amsterdam erscheinenden "Moscow Times" wurde dazu bemerkt, dass Putin seit 2012 für eine "Rekordzahl" von politischen Gefangenen verantwortlich sei. Derzeit säßen 1010 Personen aus politischen Gründen in Justizvollzugsanstalten. Experten behaupteten, dass seien mehr Gefangene als gegen Ende der Sowjetunion. Damals seien "etwa 700" Dissidenten eingesperrt gewesen. Selbst hohe Richter hatten in Russland mehrfach kritisiert, dass es bei Gerichtsverfahren kaum Freisprüche gebe und im europäischen Maßstab erschreckend lange Haftzeiten verhängt würden. Auf entsprechende Vorhaltungen der Aktivistin Eva Merkaschewa, eines der ganz wenigen Mitglieder im Rat für Menschenrechte, die dem Regime nicht vorbehaltlos nach dem Munde reden, erwiderte Putin: "Ich sehe, dass die Haftdauer leider sehr oft zu lang ist, das ist grundsätzlich inakzeptabel. Und natürlich können wir nicht davon ausgehen, dass hier alle Probleme gelöst sind."

Putins grotesker Auftritt, bei dem er auch um "Unterstützung unserer Kämpfer, unserer Männer an der Front, unserer Helden" warb, fällt in eine Zeit, in der seine Regierung homosexuelle Interessenvertreter als "extremistisch" einstufte und mit Razzien verfolgte. Die Zensur wird immer schärfer, zahlreiche Dissidenten wurden wegen "Diskriminierung der Armee" verfolgt und eingesperrt. Mit der Begründung, "traditionelle Werte" zu verteidigen, übernahm das Regime die Rhetorik der Rechtsradikalen und zog die "Schrauben" in jeder Hinsicht an. Kein Wunder, dass Putins Einlassungen entsprechend kontrovers debattiert werden.

Es spricht für sich, dass sogar Kreml-Propagandist und "Politologe" Sergej Markow einräumte, alle "offensichtlichen Oppositionellen" seien mittlerweile aus dem Rat für Menschenrechte entfernt worden, und auch "halbe Gegner" des Regimes, die "Schlauen und Gerissenen" seien nicht mehr präsent, die "von Zuschüssen der Regierung" lebten.

"95 Stalin-Denkmäler unter Putin errichtet"

Leser wollten einfach nicht glauben, das Putin sich entsprechend geäußert habe, wo doch missliebige Theaterleute und Anwälte monatelang in U-Haft säßen und harmlose Protestaktionen mit mehrjähriger Lagerhaft geahndet würden: "Geben Sie kein falsches Zeugnis gegen Ihren Nächsten ab", verlangte jemand mit Bezug auf die Bibel. Ein anderer erinnerte daran, dass von den 110 Stalin-Denkmälern in Russland 95 unter Putin errichtet worden seien. In St. Petersburg seien 34 Gedenktafeln an den "großen Terror" Stalins in den letzten Jahren entfernt worden. Sarkastisch wurde bemerkt, dass unter Stalin die meisten Sicherheitsleute nicht aus natürlichen Ursachen verstorben seien, eine Anspielung darauf, dass der Diktator im eigenen Apparat gern "aufräumte", bis hinauf zu den Geheimdienstchefs. Gute Vorsätze pflasterten den Weg in die Hölle, schrieb ein Kommentator: "Ganz generell sollte sich vieles nicht wiederholen."

"Bei skeptischem Publikum funktioniert das nicht"

Polit-Blogger Michail Winogradow (19.000 Abonnenten) schrieb, es sei schwer, bei der Fülle von Reaktionen auf Putins Äußerungen zwischen den "professionellen Analysten" und den "hoffnungslosen Romantikern" zu unterscheiden: "Bei einem skeptischen Publikum funktioniert das so nicht. Entweder ignoriert es solche Signale völlig, weil es das Interesse an Worten verloren hat und nur noch auf Taten reagiert. Oder es hat sich daran gewöhnt, dass nach jeder solchen Absichtserklärung stets genau das Gegenteil passiert. Und jedes Mal bestätigt Putin sein Weltbild aufs Neue. Damit so ein Signal funktioniert, reicht es nicht aus, es nur auszusenden. Wichtig ist, dass man am anderen Ende überhaupt darauf wartet und aufmerksam zuhören möchte."

Ein weiterer Kommentator verwies darauf, dass es schier unmöglich sei, irgendwelche Rechte gemäß einem so "vagen und unverbindlichen Dokument wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" einzuklagen, denn eine Verletzung dieser Rechte nachzuweisen, sei fast ausgeschlossen: "Gerechtigkeit ist ein rein subjektiver Begriff." Putin hatte von einer "schwierigen Situation" gesprochen: "Wie Sie wissen, hat sich Russland aus einer Reihe internationaler Menschenrechtsorganisationen zurückgezogen. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir die in der Erklärung festgelegten Grundsätze aufgeben."

"Öffentliche Meinung mit Radikalen unzufrieden"

Die Kolumnistin Ekaterina Winokurowa vom Telegram-Blog "Russland kurzgefasst" mit rund 500.000 Fans bemerkte: "Die meisten Thesen [Putins] richteten sich abermals an den gemäßigten Teil der Gesellschaft, da in den letzten Monaten die Radikalen das Sagen hatten. Befürworter einer Normalisierung, die bereits vorhatten, sich allmählich einzugraben, können versuchen, sich wieder heraus zu buddeln: Die öffentliche Meinung ist allen Umfragen zufolge mit den Radikalen unzufrieden, was sich in den Äußerungen widerspiegelt." Die Klage über die "gigantischen" Haftstrafen würden allerdings sowohl von den Politikern, als auch von der Justiz "normalerweise ignoriert".

Der in London lehrende Politologe Wladimir Pastuchow zeigte sich ironisch überrascht, dass sich Putin neuerdings an seine eigene Verfassung halten wolle: "Egal, wie dick er sie auch aufträgt: Schokolade wird niemals die oberste Schicht seiner Persönlichkeit ausmachen."

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