Am 23. November bei einem Auftritt an der Front
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Ukrainische Soldaten vor einem Graffiti mit Porträt von Walerij Saluschnyj

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"Passiert in allen Kriegen": Übernehmen Generäle die Initiative?

Das Verhältnis zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seinem Armeechef Walerij Saluschnyj soll zerrüttet sein. Gerüchteweise reden die Top-Generäle der Ukraine und Russlands direkt miteinander: Propaganda oder Realität?

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Klingt alles ziemlich logisch und sogar plausibel", schreibt der russische Kolumnist Alexej Moschkow etwas irreführend über das vom umstrittenen US-Journalisten Seymour Hersh in Umlauf gesetzte Gerücht, die Armeechefs von Russland und der Ukraine würden unter Umgehung der Politiker direkt miteinander nach Wegen zu einem Waffenstillstand suchen. Bei näherer Betrachtung, so Moschkow, gleiche das allerdings eher einer "Verschwörungstheorie", die mit der Realität nichts zu tun habe. Hersh, der einst als einer der profiliertesten amerikanischen Enthüllungsjournalisten galt, ist inzwischen eher bekannt für seine Neigung zu äußerst obskuren Quellen und Ansichten.

Unter Berufung auf russische Regierungsvertreter behaupten Polit-Blogger, es gebe tatsächlich einen "Kommunikationskanal" zwischen dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Ukraine, Walerij Saluschnyj und dem stellvertretenden Verteidigungsminister der Russischen Föderation und Armeechef, Waleri Gerassimow. Die beiden hätten während des Krieges jedoch nur einmal direkt miteinander zu tun gehabt: " Von regelrechten Verhandlungen unter ihrer Beteiligung ist natürlich keine Rede – schließlich hat sie niemand dafür autorisiert."

Gleichwohl wird auf beiden Seiten der Front lebhaft über die Rolle der Generäle debattiert. Befeuert wurden die Schlagzeilen von keinem Geringeren als Witali Klitschko, dem prominenten Bürgermeister von Kiew, der sich in einem Interview mit dem Schweizerischen Blatt "20 Minuten" sehr kritisch über Präsident Selenskyj und sehr lobend über dessen Armeechef geäußert hatte.

"Ich stehe hinter ihm"

Die Ukrainer fragten sich, warum das Land nicht besser auf den Krieg vorbereitet gewesen sei, hatte Klitschko behauptet, und bei der Gelegenheit betont, Selenskyj zahle jetzt für Fehler, die er gemacht habe: "Es gab zu viele Informationen, die sich mit der Realität nicht deckten." Gleichzeitig rühmte Klitschko General Saluschnyj: "Er hat die Wahrheit gesagt. Manchmal wollen die Menschen die Wahrheit nicht hören. Aber letztlich ist er verantwortlich. Er hat erklärt und begründet, wie die Lage heute ist. Selbstverständlich können wir euphorisch unser Volk und unsere Partner anlügen. Aber das kann man nicht ewig machen. Einige unserer Politiker haben Saluschnyj für die klaren Worte kritisiert – zu Unrecht. Ich stehe hinter ihm."

"Verlust der inneren Einheit der Gesellschaft"

Dass es zwischen Selenskyj und Saluschnyj ordentlich krachte, ist längst kein Geheimnis mehr. In der ukrainischen Ausgabe der "Prawda" heißt es in einer ausführlichen Analyse: "Generell ist es nicht verwunderlich, dass es zwischen den beiden führenden Personen der Kriegsführung zu Streitigkeiten kommt. Das passiert in allen Kriegen. Im Gegenteil, es wäre überraschend, wenn es keine Auseinandersetzungen zwischen Menschen mit solchen Ambitionen gäbe, die im wahrsten Sinne des Wortes Geschichte schreiben." Die ukrainischen Journalisten wenden sich allerdings sehr deutlich gegen eine Entlassung von Armeechef Saluschnyj, die löse die eigentlichen Probleme nämlich nicht: "Ein solcher Rücktritt führt garantiert zum Verlust des entscheidenden strategischen Vorteils der Ukraine gegenüber dem Aggressor: Der Verlust der Geschlossenheit zwischen den beiden Führern kann zum Verlust der inneren Einheit der gesamten Gesellschaft führen."

Sie wollen nicht mehr gemeinsam aufs Foto

Saluschnyj hatte sich bei Selenskyj offenbar mit der Äußerung im britischen "Economist" Anfang November unbeliebt gemacht, aus "subjektiven und objektiven Gründen" drohten an der Front ein Stellungskrieg und eine "militärische Sackgasse". In bemerkenswerter Offenheit räumte der General ein, dass es ohne eine wie auch immer geartete "Wunderwaffe" vermutlich keine entscheidenden Durchbrüche mehr geben werde, dazu seien die russischen Befestigungen zu massiv. Russische Blogger hatten darauf mit viel Schadenfreude reagiert. Inzwischen soll Saluschnyj dem US-Verteidigungsminister Lloyd Austin gesagt haben, dass der Krieg nur zu gewinnen sei, wenn 17 Millionen Granaten geliefert würden, was nach Auffassung der US-Vertreter völlig unrealistisch sei.

Derweil machen Umfrageergebnisse aus der Ukraine die Runde, wonach bereits fast die Hälfte der Bevölkerung einen Verständigungsfrieden mit Russland befürworte und Armeechef Saluschnyj beliebter sei als Präsident Selenskyj - so beliebt, dass er den Amtsinhaber bei der nächsten Wahl möglicherweise ersetzen könne. Die "Financial Times" ließ es sich nicht nehmen, darauf hinzuweisen, dass die beiden wichtigsten ukrainischen Akteure offenbar nicht mehr gemeinsam auf Fotos auftauchten und längst getrennte Wege gingen. Selenskyj suche vielmehr die Nähe ihm genehmerer Militärs, darunter der Chef der ukrainischen Bodentruppen, Oleksandr Syrskyj.

"Ich trinke Tee und säge Holz"

Wie auch immer: Die Entfremdung zwischen politischer und militärischer Führung in der Ukraine erinnert an die Zerwürfnisse in der deutschen Reichsleitung im Ersten Weltkrieg. Damals hatte der nominelle Oberbefehlshaber, Kaiser Wilhelm II., mit jedem Kriegsjahr weniger zu melden, ebenso wie der Reichskanzler und das Parlament. Stattdessen entschied die III. Oberste Heeresleitung ab August 1916, bestehend aus Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg und Stabschef Erich Ludendorff mehr oder weniger eigenmächtig über alle anstehenden Probleme, militärische wie zivile. Der Kaiser soll geseufzt haben: "Der Generalstab sagt mir gar nichts und fragt mich auch nicht. Wenn man sich in Deutschland einbildet, dass ich das Heer führe, so irrt man sich sehr. Ich trinke Tee und säge Holz und gehe spazieren, und dann erfahre ich von Zeit zu Zeit, das und das ist gemacht, ganz wie es den Herren beliebt. Der Einzige, der ein bisschen netter zu mir ist, ist der Chef der Feldeisenbahnabteilung, der erzählt mir alles, was er macht und beabsichtigt."

"Wird Elite um keinen Preis zulassen"

In Russland sitze Putin anders als Selenskyj fest im Sattel, meint der oben erwähnte Kolumnist Alexej Moschkow: "Der russische Armeechef ist nicht die richtige Verhandlungsadresse, und das schon gar nicht hinter Putins Rücken. Waleri Gerassimow ist seiner Eigenverantwortung längst beraubt (einst gab es sogar Gerüchte, dass er seine Position nur noch rein formell innehat und tatsächlich aus der Leitung des Feldzugs entfernt wurde). In Russland unterliegen alle Entscheidungen auf dieser Ebene der Kontrolle des Präsidenten, der alle relevanten Abläufe in seinen Händen hält. Gerassimows Übernahme solcher Befugnisse würde auch die Absetzung Putins bedeuten, was zum Zusammenbruch des gesamten 'Systems der Russischen Föderation' führen würde, was die Elite um keinen Preis zulassen wird, weil sie ihren Platz in der 'Machtvertikale' verlieren würde. Es würden alle davon in Mitleidenschaft gezogen."

Ähnlich formuliert es der Propagandist und Chefkommentator der russischen "News", Michail Schtschipanow. Der Westen wolle mit Artikeln wie dem von Seymour Hersh nur "Verwirrung stiften". Offenbar arbeite der US-Journalist für "sehr einflussreiche Clans", raunt Schtchipanow. Es handle sich womöglich um einen "letzten Warnschuss" für den ukrainischen Präsidenten, bevor dessen Macht an die Generalität übertragen werde.

Auch Putins Generäle sind nicht verlässlich

Dabei verschweigen die russischen Kommentatoren allerdings, dass Putin zu Lebzeiten von Söldnerführer Jewgeni Prigoschin selbst Gegenstand von Spekulationen war, ihm entgleite zunehmend die Macht im Militärapparat. Wie sich bei der Rebellion im Juni herausstellte, war kaum jemand in der Armee bereit, sich Prigoschin entgegenzustellen. Zumindest einige Stunden schien es ein Machtvakuum gegeben zu haben, später wurden mehrere Generäle, die im Verdacht standen, mit Prigoschin zu sympathisieren, kaltgestellt. Es kam zu "Säuberungen". Armeechef Gerassimow und Verteidigungsminister Sergej Schoigu freilich zählen in der Tat zu Putins besonders treuen Gefolgsleuten, was allerdings nichts über ihre Kompetenz sagt. Mag die militärische Lage aus Moskaus Sicht auch wieder etwas besser aussehen: Von der Erreichung seiner ursprünglichen "Ziele" ist Putin weit entfernt, was den Generälen nicht entgehen dürfte.

"Jetzt werde ich alle belohnen"

Davon abgesehen beschimpfte Putin seine eigenen Militärs mehr als einmal als "Etappenhengste", die "gelinde gesagt nicht sonderlich effektiv" seien. Gelobt wurden von ihm nicht die Generäle, sondern junge Leutnants und Unteroffiziere, die sich als "klug, kompetent, ausgeglichen, mutig und entschlossen" erwiesen hätten. Vor Militärkorrespondenten hatte Putin gefordert, solche Leute gezielt zu befördern: "Sowohl der Verteidigungsminister, als auch der Generalstabschef teilen diese Position voll und ganz." Hinter den Kulissen sollen sich Geheimdienstvertreter, denen Putin verbunden ist, und Armeespitze seit langem bekriegen, wie russische Exilmedien kolportieren. Agenten und Generäle sollen sich gegenseitig Versagen vorwerfen, vor allem bei der Einschätzung der Ukraine vor Kriegsbeginn.

Bei den neuerdings häufigeren Besuchen Putins im Hauptquartier der Frontarmee in Rostow am Don machte Gerassimow einen dermaßen traurigen Eindruck, dass russische Leserforen mit Spott reagierten. Es wurden Witze wie dieser verbreitet: "Putin kommt ins Hauptquartier in Rostow und fragt: Gibt es hier ein paar Oberste mit Durchblick? Nach ein paar Minuten werden zwei Militärs zu ihm gebracht. Putin sieht sich um und sagt beglückt: Geht zum Auto, da sind zwei Koffer mit Verdienstorden, schleppt sie hierher. Jetzt werde ich alle belohnen!"

"Manche freuen sich"

Juri Schwytin, der stellvertretende Vorsitzende im Verteidigungsausschuss des russischen Parlaments, hielt direkte Kontakte zwischen den Generälen an der Politik vorbei für "absurd", allerdings sei Russland jederzeit zu Verhandlungen bereit - wenn die Ukraine "bedingungslos kapituliere". In der russischen "Prawda" war beschwörend zu lesen: "Wir müssen unserem Präsidenten vertrauen, er ist ein Meister des Kompromisses, verfügt über umfangreiche politische Erfahrung und einen umfangreichen Bestand an Informationen." Laut "Prawda" sprechen fünf Argumente für direkte "Annäherungsversuche" unter den Generälen, vier dagegen. So habe sich Saluschnyj mehrfach positiv über sein Gegenüber Gerassimow geäußert, er sei mit dessen Militärdoktrin quasi aufgewachsen. Andererseits wolle Seymour Hersh offenbar die russischen Patrioten gegen den Kreml aufstacheln.

Mit ganz anderem Unterton schrieb der russische Blogger Stanislaw Byschok: "Manche freuen sich über die Tatsache, dass viele prominente Persönlichkeiten der ukrainischen Elite mit der Politik von Präsident Selenskyj unzufrieden sind und ihre Unzufriedenheit auch öffentlich zum Ausdruck bringen. Ich möchte lieber darauf aufmerksam machen, dass dies in der Ukraine grundsätzlich möglich ist. Wie ist es machbar, dass der Amtsinhaber nicht wiedergewählt wird?"

Der kremlkritische Politologe Anatoli Nesmijan verwies darauf, dass Russland im Grunde dieselben militärischen Probleme habe wie die Ukraine: So sei die Rüstungswirtschaft auf absehbare Zeit auf beiden Seiten nicht in der Lage, für den nötigen Nachschub zu sorgen. Auch die Denkschulen der Militärs seien in Russland und der Ukraine vergleichbar: Ein Plan B sei weder in Kiew, noch in Moskau üblich. Vielmehr hielten sich die Generäle hier wie dort an zwei Alternativen, wenn eine Offensive gescheitert sei: Entweder machten sie stur weiter, oder sie ließen die Truppe "sich eingraben", um Zeit zu gewinnen für eine Auffüllung der Soldaten- und Munitionsvorräte.

"Wird alles sehr interessant werden"

Originell ist Nesmijans Argumentation, sowohl die ukrainischen, als auch die russischen Generäle hätten Grund, auf den Westen sauer zu sein und somit "plötzlich ein gemeinsames Feindbild". Die Ukraine fühle sich von den USA und ihren Verbündeten "verraten", Russland entmachtet: "Der Zustand der russischen Streitkräfte wird noch viele Jahre lang wiederhergestellt werden müssen, damit sie zumindest eine hypothetische Bedrohung [für den Westen] darstellen. Derweil sitzt die russische Armee in der Ukraine fest und kann, solange sie dort gebunden ist, grundsätzlich keine Gefahr für den Westen und die NATO darstellen." Wörtlich meint der Blogger über Kiews und Moskaus Perspektiven: "Wenn dieser Bewusstseinswandel eintritt, wird alles sehr interessant aussehen."

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