Gönül Yerli kam als kleines Kind mit ihren Eltern aus der Türkei nach Deutschland. Seit 18 Jahren ist sie in der Penzberger Moschee-Gemeinde und im interreligiösen Dialog aktiv. Sie ist deutsche Staatsbürgerin, hat in Deutschland ihren Mann kennengelernt und ihre drei Kinder großgezogen. Sie sagt: "Ich bin dankbar, dass ich in diesem Land leben darf."
- Zum Artikel: Muslime in Deutschland – nicht alle sind religiös
Yerli hört oft, ob sie nicht zurückkehren will – sie fragt sich wohin
Und trotzdem werde ihr immer wieder die Frage gestellt, "ob ich denn nicht wieder zurückkehren möchte in die Türkei. Und diese Frage stelle ich mir zum Beispiel überhaupt nicht." Sie sagt, sie wisse gar nicht, mit welchem Land sie sich identifizieren solle.
Seit dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober fragt sie sich oft, wie es weitergehe mit dem Islam in Deutschland. Für ihre Kinder hatte sie immer gehofft, dass sie es in ihrer Heimat Deutschland einmal besser haben. "Aber momentan sieht es tatsächlich nicht danach aus."
Studie: Muslime wollen als Menschen anerkannt werden
Bereits 2018 stellte eine umfangreiche Untersuchung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg ein gewisses Gefühl von Nicht-Akzeptiert-Sein in Bayern unter Muslimen fest. "Der am häufigsten formulierte Wunsch in Hunderten von Gesprächen ist die Entwicklung und Anerkennung schlichter Normalität des (auch) Muslim-Seins in Bayern und Deutschland und der Verzicht auf religiöse, ethnische oder politische Kulturalisierung", heißt es wörtlich in der Studie "Islam in Bayern". Muslimische Akteure müssten ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit als inländische Akteure wahrgenommen werden, wenn sie das Inland betreffende Anliegen verfolgen, so die Schlussfolgerung der Autoren damals.
Als Beispiel führten die Wissenschaftler damals an, dass "deutsche, hierzulande regulär ausgebildete Lehrkräfte, die auch im Islamischen Unterricht eingesetzt werden, sich immer wieder für religiös begründeten Extremismus in Saudi-Arabien, Syrien oder Iran rechtfertigen oder zu politischen Entwicklungen in der Türkei positionieren sollen, die sie nicht mehr betreffen als alle anderen Menschen im Land".
Politologin: Viele Muslime fühlen sich nicht willkommen
Diese Stimmung hat sich seit dem Terrorangriff der Hamas nach Einschätzung von Schirin Amir-Moazami nicht gebessert. Ganz im Gegenteil, sie habe sich sogar verstärkt. Sie ist Soziologin und Politologin und forscht an der Freien Universität Berlin unter anderem zu Religionspolitik in Europa. Sie stellt fest, dass viele Muslime, die sich lange hier zu Hause fühlten, verunsichert sind. "Auswanderungspläne oder Überlegungen, die gibt es tatsächlich." Vielen Menschen mit muslimischem Hintergrund sei klar geworden, dass unabhängig davon, wie sehr man sich anstrenge, um in der Gesellschaft zu partizipieren, man immer wieder als anders wahrgenommen und stigmatisiert werde. "Und das ist was, was tatsächlich sehr, sehr viele Menschen gerade bewegt, dass sie sehen, sie sind eigentlich in diesem Land, obwohl sie das Land mit aufgebaut, haben, obwohl sie in vielleicht in der dritten Generation hier leben und sich mit diesem Land identifizieren, eigentlich nicht wirklich willkommen."
Eine Stimmung, die sich auch in einer wachsenden Zahl islamfeindlicher Taten niederschlägt. So hat die Zahl dieser Straftaten laut vorläufigen Daten des Bundesinnenministeriums 2023 zugenommen. Sie liegt für die ersten drei Quartale bei 686 – und überschreitet damit bereits jetzt die Gesamtzahl des Vorjahres. Laut Experten ist zudem die Dunkelziffer hoch.
Geboren in Deutschland – aber nicht willkommen?
Es ist eine Stimmung, in der sich viele überlegen, ob sie in Deutschland noch willkommen sind, wie auch der Mannheimer Kinderarzt Abdallah bestätigt, der nicht unter seinem kompletten Namen öffentlich sprechen will. Grund dafür ist die Sorge um die Sicherheit seiner Familie in Palästina. In Deutschland sei es noch nie einfach gewesen, obwohl er Akademiker sei. Diskriminierung bei der Wohnungssuche oder im Alltag erlebe er sein Leben lang. "Aber es war so, dass man gesagt hat: Nein, ich lasse mich davon jetzt nicht besiegen. Und es war nie so, dass man gesagt hat, ach, ich werde das hier ganz aufgeben. Ich werde meinen Beitrag in der Gesellschaft leisten." Inzwischen aber höre er aus seinem Freundeskreis öfter, dass über einen Plan B nachgedacht werde. "Und das finde ich sehr, sehr schade. Dass Menschen, die ihr ganzes Leben hier verbracht haben, sagen, die werden uns nie akzeptieren. Sie werden uns nie als Deutsche sehen.“
Muslime und muslimisch gelesene Menschen würden immer auf ihre vermeintlichen Herkunftsländer oder die Herkunftsländer ihrer Familien reduziert, stellt Gönül Yerli fest, die Penzberg eigentlich nicht verlassen möchte. Ähnlich äußert sich auch Abdallah, der 31-jährige Kinderarzt, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Seine Tanten, Onkel, Cousinen und seine Großmutter leben im Gazastreifen, auch er selbst hat eine Weile dort gelebt. Seit dem Angriff aber hat er das Gefühl, dass er "nicht als Mensch gesehen wird". Einzelne Kollegen hätten ihn auf die Situation in Gaza angesprochen. "Das ist auch ein enttäuschendes Gefühl", sagt er. Weil ihm keine Empathie entgegengebracht wird. Er glaubt: "Wenn ich aus einem Gebiet stammen würde, wo es eine Naturkatastrophe gibt, da würde mich jeder umarmen, und fragen, wie geht es deiner Familie, was ist los, wie können wir helfen."
Sich distanzieren von Taten, mit denen man sich nie identifizierte
Er aber erlebe Stille und Schweigen in der Arbeit. "Und die einzelnen, die mit dir darüber sprechen … sofort dieses: Ihr seid doch dran schuld, dass das passiert." Er hat das Gefühl, er müsse sich distanzieren von einem Terror, mit dem er sich noch nie identifiziert hatte.
Die Soziologin Schirin Amir-Moazami erkennt darin ein Muster: "Wir haben hier ein Schema, das sehr üblich ist, das wir nach jedem Terroranschlag sehen können: dass Muslime in Kollektivhaft genommen werden und verantwortlich gemacht werden dafür, was im Namen ihrer Religion anderswo passiert, mit dem sie sich in der Mehrheit nicht identifizieren." Das sei "absurd", denn wenn Anschläge im Namen des Christentums wie etwa in Christchurch verübt würden, werde auch nicht von allen verlangt, sich davon zu distanzieren.
Sechs Menschen, alle getötet
Abdallah sagt: "Ich habe Freunde aus Deutschland, die komplette Familien verloren haben." Auch er stellt sich im Interview mit dem BR die Frage, wen von seinen Verwandten er womöglich noch auffinden wird, so er denn je wieder nach Gaza reisen kann.
Vor ein paar Tagen geschieht das, was er befürchtet hat: Auf Instagram postet er die Namen seiner Cousinen und Cousins: Hassan, Mohammed, Halla, Ansam, ihre Kinder Malak und Mira. Die älteste von ihnen 25, der jüngste 5 Monate. Alle getötet.
Das Haus, in dem sein Onkel Zuflucht suchte, wurde bombardiert. Ein weiterer Teil seiner Familie ist schwer verletzt. Wie es den übrigen Mitgliedern der Großfamilie geht, ist derzeit nicht bekannt.
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