"Für mich hat Freiheit absolut nichts mit Politik zu tun", so Wladislaw Surkow in einem viel beachteten Interview mit der französischen Wochenzeitschrift "L'Express". Darin äußert sich der Ex-Berater von Putin teilweise sehr polemisch zum autoritären russischen Regierungssystem ("Putinismus"), das er selbst maßgeblich mit geschaffen hat: "Es ist einfach das effektivste Modell für unser Land. Ich habe zehn Jahre gebraucht, um es aufzubauen, und siehe da: Es funktioniert. Wir brauchen einen Zaren. Zeiten ohne einen Zar enden für uns immer in einer Katastrophe. Vielfalt ist gut in der Außenpolitik, nicht in der Innenpolitik."
"Die russische Welt ist überall"
Nach den Gründen gefragt, antwortete Surkow, darauf gebe es womöglich hunderttausend Antworten: "Ich werde Ihnen nur die kürzeste geben: Ich weiß es nicht." Politik sei "in erster Linie ein Bereich der Emotionen, der Leidenschaften und erst in zweiter Linie des Handwerks" so Surkow: "In der Politik geht es stets um die Machtfrage, die der älteste, dunkelste und irrationalste Aspekt der menschlichen Natur ist. Politisches Handwerkszeug hilft dabei, auf den Wellen zu reiten, aber es erschafft sie nicht."
Surkow sagte die Zerschlagung der Ukraine voraus: Es gebe dort "russische", "nicht-russische" und "antirussische" Regionen, und nur letztere, im Westen des Landes, hätten eine Zukunft als eigenständige Nation. Die "russische Welt" (Russki Mir), verstanden als Mentalität und Einflusssphäre, habe keine Grenzen: "Die russische Welt ist überall dort, wo es russischen Einfluss in irgendeiner Form gibt: kulturell, medial, militärisch, wirtschaftlich, ideologisch oder humanitär - das heißt, sie ist überall."
"EU wurde auf den Trümmern unserer Union errichtet"
Das Ausmaß des russischen Einflusses variiere stark von Region zu Region, sei aber nie gleich null: "Wir werden uns also in alle Richtungen ausbreiten, so weit wie Gott will und wie wir die Kraft dazu haben. Wichtig ist, dass wir es nicht übertreiben und uns nicht einen zu großen Brocken vornehmen."
Über die EU sagte Surkow abschätzig: "Ihre Union wurde auf den Trümmern unserer Union errichtet. Das ist Ihren Politikern ein wenig zu Kopf gestiegen. Die EU hat überflüssige Pfunde angesetzt." Allerdings fügte er an, es werde in Russland eine "allmähliche Lockerung" des Regimes geben: "In Zukunft wird der Westen autoritärer und Russland weniger autoritär werden."
"Terrorsystem kann Widersprüchen nicht standhalten"
Mit diesen und weiteren Äußerungen sorgte Surkow in Russland für ein nachhaltiges Echo. Politologe Anatoli Nesmijan (120.000 Follower) bezweifelte, dass das Gottesgnadentum der Zaren für die heutige säkulare russische Großstadtgesellschaft noch Gültigkeit beanspruchen dürfe: "Wie die Geschichte zeigt, kann ein auf Terror basierendes Regierungssystem den Widersprüchen, die es durch endlose Gewalt schafft, letztlich nicht standhalten. Auch in Russland wird das nicht möglich sein."
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Russische Leser, etwa der "Business Gazeta", schimpften, Surkows Worte seien so nützlich wie eine "Mistgabel im Wasser". Ein weiterer Leser höhnte: "Sie haben ihn rausgeschmissen, als sie seine Märchen durchschauten." Surkow wurde gar mit dem französischen Astrologen Michel de Nostredame ("Nostradamus") verglichen.
Einer der größten Polit-Kanäle auf Telegram mit 600.000 Fans meinte, Surkow sei zwar ideologisch im Recht, doch seien das für Moskau angesichts einer EU, die gerade aufrüste, "schlechte Nachrichten". Die Mittel des Kremls reichten nämlich nicht mal aus, um im vierten Kriegsjahr die ukrainischen Regionen Donezk und Lugansk vollständig zu besetzen, geschweige denn für weitreichendere Ambitionen.
"Sollen wir bei unseren Vorbildern vorsichtiger sein?"
Dem russischen Politologe Andrei Kalitin fiel auf, dass in der russischen TV-Propaganda ganz im Einklang mit Surows Interview neuerdings häufig Zar Iwan IV. ("der Schreckliche") zu sehen ist, und zwar mit einem Ausschnitt aus dem berühmten Film von Sergei Eisenstein aus dem Jahr 1944, wo es martialisch heißt: "Sie werden ihn schon kennenlernen, solange er stark ist."
Das kommentierte Kalitin mit den ironischen Worten: "Vielleicht lohnt es sich, unsere 'Geschichtsliebhaber' daran zu erinnern, wie die Herrschaft Iwans des Schrecklichen für unser Land endete?" Nach dem Tod des Zaren habe Russland rund fünfzig Jahre unter den sprichwörtlichen "Wirren" gelitten: "Vielleicht sollten wir bei der Auswahl unserer Vorbilder etwas vorsichtiger sein?"
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