Man kann es wirklich gleich ein wenig mit der Angst zu tun bekommen, beim Betreten dieser Ausstellung in der National Gallery: Lauter Arbeiten in düsterem Schwarz, die gepeinigte Menschen zeigen, mit Titeln wie "Totentanz" von Otto Dix oder "Der Gefangene" von Christian Rohlfs. Auch gleich im ersten Raum: "Die große Angst" von Walter Gramatté, ein Selbstporträt von 1918. Das Werk gab Kuratorin Shelley Langdale die Idee zur Ausstellung: "Seine knorrigen Hände, seine weit aufgerissenen Augen, die dynamischen diagonalen Striche – als ich das mitten in der Corona-Pandemie betrachtet habe, dachte ich mir: Wow, diese Zeit, die wir heute durchleben, hat so auffallend viel gemeinsam mit dem, was die deutschen Expressionisten durchlebt haben."
Für Walter Gramatté, selbst als junger Soldat im Ersten Weltkrieg, war es die eigene körperliche und seelische Not, die er in seinen Porträts umsetzte – vor dem Hintergrund der revolutionären Umbrüche dieser Zeit: "Wie sich das moderne Leben dramatisch verändert hat damals, geopolitisch, durch Pandemie, den Aufstieg des Nationalismus, und das alles auf einmal, gleichzeitig - das passiert uns heute genauso", sagt Shelley Langdale.
"Angst" geht in die Eingeweide
Neben Covid-19 waren es die Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung, die wachsende Polarisierung in den USA, inzwischen auch die Kriege in der Ukraine und Nahost, die Langdale durch den Kopf gingen, als sie die Arbeiten für die Ausstellung auswählte. Auf Grundlage der umfangreichen Sammlung deutscher Expressionisten, die die National Gallery of Art besitzt, speziell Zeichnung und Druckgrafik, etwa von Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde. Und das Wort Angst im deutschen Titel der Gramatté-Arbeit ist für Langdale viel treffender als das englische "fear" oder "anxiety": "Es gibt etwas in diesem deutschen Wort, sogar in der Aussprache, das tiefer geht, treffender ist als jeder englische Ausdruck für diesen Gefühlszustand. So geht es mir mit dem Wort Angst - es geht mehr in die Eingeweide gewissermaßen."
Nicht alles in dieser Ausstellung ist angsterfüllt, dunkel, schwarz. Selbst Walter Gramatté hat eine zweite Version seiner Radierung "Die große Angst" mit Aquarellfarbe koloriert. Noch viel heller, farbstärker wird es dort, wo es um Landschaften, um den menschlichen Körper, auch Sexualität geht, sagt Langdale: "Das ist Teil des Bestrebens der deutschen Expressionisten, konventionelle Herangehensweisen aufzubrechen. Sie haben Freundinnen, Geliebte, die Geliebten von Freundinnen gezeichnet (lacht). Weg vom idealisierten Typus, hin zu einer Variationsbreite nackter Körper, die es zu anderen Zeiten kaum gab."
Konfrontation mit Gegenwart
Besonders spannend der letzte und größte Raum, der zeitgenössische Arbeiten in Bezug setzt. Werke des Deutschen Matthias Mansen etwa, der ebenso im Holzschnitt arbeitet wie die Israelin Orit Hofshi, oder des Afroamerikaners Rashid Johnson, dessen Siebdruck in Signalrot schwer entzifferbare Gesichter zeigt: "Fast gekritzelte Gestalten, mit denen er als schwarzer Amerikaner seine Erfahrung mit Vorurteilen thematisiert. Mit den Black-Lives-Matter-Protesten hat sich das bei ihm noch gesteigert. Deshalb auch das Rot als Farbe der Gefahr und der Dringlichkeit", erklärt Langdale.
Der Titel "Anxious Red", ängstliches Rot, führt dann doch noch einmal zurück zur Radierung "Die große Angst" am Ausstellungsbeginn. Und zur Frage an Shelley Langdale als Amerikanerin: Ist Angst wirklich typisch deutsch? "Mein Gefühl ist", antwortet sie, "dass die meisten Leute, die ich kenne, Deutsche als sehr ernsthaft, intensiv empfinden. Da ist diese intensive Tiefe. Das muss nicht unbedingt angstgeprägt sein, es kann auch enthusiastisch, freudig sein. Es ist diese Intensität, die oft mit Deutschen verbunden wird." Intensiv ist auch diese Ausstellung, die man vor allem nachdenklich verlässt.
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