"100 Jahre Einsamkeit", "Chronik eines angekündigten Todes", "Liebe in Zeiten der Cholera" sind weltweit Bestseller des kolumbianischen Autors und Meister des magischen Realismus, Gabriel García Márquez. Nun erscheint zehn Jahre nach dem Tod des Literaturpreisträgers ein letztes Buch: "Wir sehen uns im August." Obwohl García Márquez - auch wegen fortgeschrittener Demenz - keine Veröffentlichung gewollt hatte, haben seine beiden Söhne den kurzen Roman nun publiziert.
Eine Frau als Hauptfigur
Dagmar Ploetz, die Übersetzerin von Gabriel García Márquez, ist froh, dass "Wir sehen uns im August" posthum erschienen ist: "Es sind einfach sprachlich wunderbare Passagen, die sehr lyrisch-atmosphärisch sind. Und daneben diese Nüchternheit, die er eben auch hatte. Dieses Wechselspiel ist schon schön", so Ploetz.
Es ist der einzige Roman des Kolumbianers mit einer Frau als alleiniger Hauptfigur: Ana Magdalena Bach. An jedem 16. August, dem Todestag ihrer Mutter, fährt sie mit der Fähre vom Festland zu einer karibischen Insel, um auf dem dortigen Friedhof auf das Grab einen Strauß Gladiolen zu legen. Danach verbringt Ana Magdalena eine Nacht in einem heruntergekommenen Hotel der Insel. Als Lehrerin kann sie sich kein besseres leisten.
In der Bar eines Hotels fällt ihr ein US-Amerikaner auf: "Auf dem Tisch hatte er eine Flasche Brandy stehen, ein halb leeres Glas, und er schien allein auf der Welt zu sein. Das Klavier begann Debussys Clair de Lune in einer wagemutigen Bolero-Bearbeitung zu spielen, und die junge Sängerin sang voller Hingabe. Ergriffen bestellte Ana Magdalena Bach einen Gin mit Eis und Soda, das einzige alkoholische Getränk, das sie gut vertrug. Die Welt veränderte sich mit dem ersten Schluck. Sie fühlte sich frech, fröhlich, zu allem fähig und verschönt durch die heilige Mischung von Musik und Gin."
Eine Affäre, oder mehr?
Ana Magdalena, die bis dahin nur mit ihrem Ehemann Sex hatte, nimmt den Fremden mit auf ihr Zimmer. Von da an ist sie eine andere. Das Glück ihrer Ehe empfindet sie nun als zu konventionell. Und so beschließt sie insgeheim, jeden August nicht nur das Grab ihrer Mutter zu besuchen, sondern auch mit einem jeweils neuen Mann zu schlafen. Als das einmal nicht klappt, empfindet sie das gesamte Jahr als verloren.
Die beiden Söhne von García Márquez schreiben im Vorwort, ihr Vater habe verlangt, diesen Text zu vernichten. Er selbst litt zunehmend an den Folgen der Demenz. Fragt sich also, ob es moralisch zu vertreten ist, das Buch trotzdem zu veröffentlichen. Dagmar Ploetz hat Verständnis für diese Entscheidung: Die Söhne sagten ja, die Skrupel seien ihnen abhandengekommen, als sie das noch mal gelesen haben. Das sei verständlich, denn es wirke nicht wie das Werk eines Demenzkranken, so Ploetz.
"Also der Erzählbogen ist ganz klar eingehalten. Das Ende stand. Und dazwischen gibt es so kleine Unstimmigkeiten, wo ich denken würde, dass García Márquez da vielleicht noch ein bisschen mehr poliert hätte. Aber es ist nicht so, dass man andauernd stolpert, weiß Gott nicht. Das merkt man erst beim Übersetzen zum Beispiel, wenn man sehr genau liest."
Eine Geschichte von Untreue und Selbstverwirklichung
Insgesamt ist es eine herausragend gut geschriebene, sehr literarische Geschichte über Liebe, Untreue und die Sehnsucht nach Selbstverwirklichung. Das faszinierende Psychogramm einer Frau, die sich und das Leben neu entdeckt. Ihr eigenes Geheimnis weckt auch ihr Misstrauen gegenüber dem Ehemann.
Auf ihre Frage hin gesteht er ihr, sie betrogen zu haben, mit einer chinesischen Musikerin: "Sie schloss die Augen, um ihre Atmung in Ordnung zu bringen, er sollte nicht mit Genugtuung ihre Wut bemerken, und überrumpelte ihn mit der Frage: 'Und, hatte sie den Schlitz quer?' Er konnte sich das Lachen nicht verbeißen, und sie fiel ein. Hörte aber abrupt auf und musste die Augen schließen, um die Tränen zu unterdrücken."
"So ist es nun."
Dagmar Ploetz bewahrt in ihrer Übersetzung sehr schön die Musikalität des spanischen Originals. Überhaupt ist "Wir sehen uns im August" ein musikalisches Buch. Ana Magdalena Bach, selbst keine Musikerin, aber hochmusikalisch und in ihrer Familie von klassischen Musikern umgeben, trägt nicht zufällig den Namen von Johann Sebastian Bachs zweiter Ehefrau. Und gerade unter dem Einfluss von Musik und Tanz kommen ihre Affären für eine Nacht auf der Insel zustande.
Bis sie, mittlerweile fünfzig, auf dem Friedhof etwas Erstaunliches über das Leben ihrer Mutter erfährt und die Geschichte in einen spektakulären Schluss mündet. Mehrfach hat Ana Magdalena das Gefühl, ihre tote Mutter beobachte sie.
Angenommen, Gabriel García Márquez könnte sehen, dass seine beiden Söhne gegen seinen Willen diesen Kurzroman zur Veröffentlichung freigegeben haben – wie würde er wohl darauf reagieren? Dagmar Ploetz hat da eine Vermutung: "Da er ja in einer abergläubischen Art und Weise fatalistisch war, glaube ich, dass er sich damit anfreunden kann. 'Fatum est', würde er denken, 'so ist es nun'."
Der posthume Roman von Gabriel García Márquez "Wir sehen uns im August" wurde aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz übersetzt, ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. Das Buch kostet 23 Euro, als E-Book 19,99 Euro.
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