Im April 2023 brennt eine Raffinerie in Sewastopol auf der Krim
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Traurige Alltagserfahrung: Brennende russische Ölanlage

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"Götter sind taub": Russen beklagen "Gefühl der Unsicherheit"

"Götter sind taub": Russen beklagen "Gefühl der Unsicherheit"

Die vielen Angriffe ukrainischer Drohnen auf russische Tanklager und Raffinerien zehren an den Nerven der Bevölkerung: Der Kriegsverlauf sei "besorgniserregend", Putins Ziele dubios, so selbst kremltreue Kommentatoren: "Es sieht alles traurig aus."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Ich habe aufgehört, die Götter der Luftverteidigung anzurufen. Im Laufe des Jahres wurde mir klar, dass die Götter gegenüber den Gebeten der Sterblichen taub sind", spottet der populäre russische Militärblogger Alexei Schiwoff (113.000 Follower) über die nahezu täglichen Angriffe ukrainischer Drohnen auf russische Industrieanlagen: "Es ist viel bequemer, die Drohnen mit Pressemitteilungen abzuschießen. Wir behaupten einfach, alle seien ausgeschaltet worden und das war's. Allerdings ist niemand vor 'herabfallenden Trümmern' sicher. Nicht mal unsere Ölfirmen." Derzeit sei es angesichts unzureichender militärischer Zusammenarbeit und "böser Absichten" unmöglich, die Probleme zu lösen: "Das war's."

"Bombardierung keine Neuigkeit mehr"

Mit diesem Sarkasmus steht Schiwoff keineswegs allein. So heißt es auf einem weiteren Telegram-Kanal ironisch: "Die große strategische Geduld des Kremls sollte mit großen Erfolgen bei den Friedensverhandlungen belohnt werden, die jedoch 'aus irgendeinem Grund' nicht beginnen." Während Putin über die "mögliche Zusammensetzung der russischen Verhandlungsdelegation" nachdenke, überschreite Kiew alle möglichen "roten Linien". Der russische Himmel sei zur "Durchgangsstation" für ukrainische Drohnen geworden, alles sei "traurig und hoffnungslos", seufzte ein Beobachter.

Auch der kremlkritische Blogger Anatoli Nesmijan hat nur noch schwarzen Humor übrig für die Fähigkeiten der russischen Luftverteidigung. Die offiziellen Medien würden sich schon gar nicht mehr um brennende Ölanlagen scheren: "Generell gelang es dem Oberbefehlshaber [Putin] definitiv, eine neue Normalität zu schaffen, in der die Bombardierung des Landes keine Neuigkeit mehr ist. Es sei daran erinnert, dass der Zweck der Spezialoperation darin bestand, die Sicherheit des Heimatlandes zu gewährleisten. Wie üblich endete der gnadenlose Kampf um die Sicherheit vorhersehbar mit Verlusten."

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Der auch im Westen veröffentlichende Politologe Wladislaw Inosemtsew spricht von "sehr besorgniserregenden Ereignissen", weil die Ukraine allein in diesem Jahr bereits zwanzig große russische Industrieanlagen angegriffen habe.

Das werde zwar nicht zu "ernsthaften wirtschaftlichen Problemen führen", aber das "Gefühl der Unsicherheit" erheblich verstärken, zumal sich der Eindruck aufdränge, dass die russische Armee zwar ihre eigenen "strategischen Einrichtungen" beschütze, nicht aber Privatunternehmen: "Die Unterstützung der Russen für den Kreml beruht darauf, dass sie die Operation in der Ukraine nicht als Krieg betrachten – sie unterscheidet sich zu sehr von allem, was Menschen mit einem sowjetischen 'Ausbildungsweg' mit diesem Begriff verbinden. Je mehr daran Zweifel aufkommen, desto schwieriger wird es für die Behörden, ihre militärische Sonderoperation fortzusetzen."

Sogar Starblogger Juri Podoljak (3,1 Millionen Follower) wettert seit Tagen über eine angebliche "Täuschung der Führung des Landes" durch das russische Militär angesichts erfundener Erfolgsmeldungen: "Wenn die Ermittler wirklich nachforschen, werden viele Köpfe rollen."

"Frage mich, ob es funktionieren wird"

Propagandist Andrei Dewjatow macht sich schon Gedanken darüber, wie sich Putin gesichtswahrend in Verhandlungen "retten" könnte: "Es ist davon auszugehen, dass die Verhinderung eines Atomkrieges als Sieg Russlands in den Friedensverhandlungen verkauft wird, unter der Schirmherrschaft der USA und Chinas." Putin habe die Ukraine mit der "Illusion einer multipolaren Welt, ohne klare Strategie, in Erwartung kurzer Kampfhandlungen" angegriffen, jetzt sei es in ein "Zermürbungskrieg".

Ein weiterer Kommentator schreibt mit Hinweis auf das jüngste Interview von Putin zweifelnd: "Der Kreml bereitet sich auf Verhandlungen vor, aber zu seinen eigenen Bedingungen. Ich frage mich, ob es funktionieren wird". Putin hatte behauptet, alles könne "in einem, eineinhalb oder zwei Monaten enden", wenn der Westen aufhöre, die Ukraine militärisch zu unterstützen. Der Ukraine sprach Putin jedwede Souveränität ab.

Politologe Dmitri Michailitschenko leitete daraus ab, die Kontrahenten seien noch "sehr weit" voneinander entfernt: "Es ist zumindest erfreulich, dass niemand drastische Schritte unternehmen wird. Das heißt, weder Washington noch Moskau wollen die geringen Fortschritte, die während der bisherigen Unterredungen erzielt wurden, aufs Spiel setzen." Der in London lehrende Blogger Wladimir Pastuchow bilanzierte: "Wie viel wird Putin für den Frieden verlangen und wird die Welt den Preis bezahlen? Wir können schon jetzt sagen, dass dieser Preis vielen nicht gefallen wird."

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