Um es ausnahmsweise mal nicht gleich auf den Punkt zu bringen. Wenn Du als Musiker von den Besten die Meisten kennst und Dir Weltberühmtheiten wie Ai Wei Wei zu jedem neuen Song ein individuelles Bild oder Kunstwerk gestalten und Du Dir dann obendrein auch noch die drängendsten und komplexesten Themen der Gegenwart herauspickst und dann aus jedem Song drei Versionen machst, dann ist das nicht verwunderlich, dass Du dafür 20 Jahre brauchst und dass ein erster Satz, um dieses Megaprojekt "I/o" zu beschreiben, dann auch ruhig mal – Moment, ich habe mitgestoppt – 33 Sekunden lang sein darf. Also, wo fangen wir an?
Alles ist verbunden
"Als ich ein Kind war", erinnert sich Peter Gabriel, "da haben mir meine Eltern im Auto so ein Spielzeuglenkrad in die Hand gedrückt und ich war fest davon überzeugt, dass ich das Auto lenke. Wir glauben, wir treiben alle auf diesen kleinen Inseln mit diesen Steuerrädern und geben uns der Illusion hin, wir alleine könnten die Richtung bestimmen". Peter Gabriel will uns auf einen ganz anderen Gedanken hinlenken: Alles ist verbunden. Wir sind ein zufälliger Haufen Atome und Moleküle, die nach unserem Tod wieder woanders landen und genutzt werden.
Wir nehmen auf, wir geben ab, Input, Output, kurz: i/o. Und Gabriel macht gleich noch eine politische Dimension auf: Schluss mit diesem binären demokratiezersetzenden und von sozialen Medien befeuerten Denken in "wir" und die "anderen". Passend dazu auch der smarte Kunstgriff von Peter Gabriel: Jeden Song gibt es in drei Varianten. Die "Brightside-" und die "Darkside"-Version, also die Licht- und Schatten-Variante, und außerdem einen Mix aus beiden. Auch wenn Brightside und Darkside nach komplettem Gegensatz klingen, unterscheiden sich die Versionen jeweils nur marginal und nur zeitweise auf Anhieb hörbar.
Keine Sentimentalität beim Thema Tod
Gabriels markanter Gesang ist je nach Version mal klarer und direkter, manchmal klingt's beim Pendant, als stünde er in einer Höhle. Konstante Bekannte sind und waren Gitarrist David Rhodes, Bassist Tony Levin und Drummer Manu Katché. Und natürlich Gabriels langjähriger Freund und musikalischer Weggefährte Brian Eno.
"I/o" bedient die ganze Palette von sinfonisch, episch, mit Chören aus aller Welt. Dann wieder funky-poppig 80s-mäßig, später eine klassisch opulent orchestrierte Ballade zu Ehren seiner verstorbenen Mutter. Und was seine eigene Sterblichkeit betrifft, ist Gabriel alles andere als sentimental:
"Wenn Du in meinem Alter bist, dann läufst Du entweder vor dem Tod davon oder stürzt Dich ins Leben und versuchst es in vollen Zügen zu genießen. Und das erscheint mir deutlich sinnvoller", sagt ein überzeugter Peter Gabriel, und ergänzt: Ihm scheinen gerade jene Länder die lebendigsten zu sein, die den Tod als Teil ihrer Kultur zelebrieren.
Sechsminütiger Meditationsteppich
Staatliche Überwachung, Künstliche Intelligenz, Terror, religiöser Fanatismus – Gabriel gibt musikalisch komplexe, aber gedanklich sehr frische positive Antworten und Denkanstöße. Wenn wir uns besser untereinander verständigen und verstehen könnten, so seine These, dann würde uns auffallen, von wie viel menschlicher Intelligenz wir umgeben sind und müssten sie nicht ständig auf anderen Planeten suchen und vermuten.
Und dann ist da zum Beispiel noch der sechsminütige Meditationsteppich "Love Can Heal" - Liebe kann heilen. Klingt wie ein alter Hippie-Slogan, gibt Gabriel zu. Und ich gebe zu: Es fällt mir deutlich leichter, die Botschaft dieses Songs zu begreifen als die Unterschiede der Brightside- und der Darkside-Version von "Love Can Heal" herauszuhören. Peter Gabriel jedenfalls hat eine klare Botschaft: "Wenn wir Interaktion und Wärme spüren, uns als Teil einer Gemeinschaft fühlen und nicht isoliert, dann tendieren wir eher dazu, Gutes zu tun."